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# taz.de -- Senior-Besetzer: Darauf ein Glas Rotkäppchen
> Das Besetzungskapitel ist so gut wie abgeschlossen - Grund genug für die
> SeniorInnen in der Stillen Straße, ein Fest zu feiern.
Bild: Es hat sich gelohnt: Einige der BesetzerInnen im Juli.
Es gibt eine Szene aus meiner Kindheit, die sich mir ins Gehirn gebrannt
hat: Ich bin sechs Jahre alt und sitze auf dem Dachboden eines besetzten
Hauses in Kreuzberg, während die Polizei von außen versucht, die mit
Stahlstangen verbarrikadierte Tür mittels eines Rammbocks zu öffnen.
Nachdem es den anderen Bewohnern nicht gelungen war, das Haus gegen die
eindringenden Beamten zu verteidigen, ist dies das typische Finale einer
Hausbesetzung. Vor dem Haus höre ich die Sprechchöre der Unterstützer und
das Geheul der Sirenen, ab und zu splittert Glas, um mich herum sitzen
andere Kinder, meine Mutter und ein paar Freunde.
Solche oder ähnliche Bilder hat wohl jeder im Kopf, wenn er an
Hausbesetzungen denkt. Bis heute. Denn zwanzig Jahre später, in der ihrem
Namen mehr als gerecht werdenden Stillen Straße in Pankow, haben einige
Senioren und ihre Unterstützer etwas fertiggebracht, was seit Jahren in
Berlin undenkbar schien: eine erfolgreiche Hausbesetzung. Nachdem die
Bezirksverordnetenversammlung Pankow (BVV) im März 2012 beschlossen hatte,
die Seniorenbegegnungsstätte aus Kostengründen zu schließen, hatten die
NutzerInnen des Hauses kurzerhand beschlossen, das Gebäude zu besetzen. Sie
bekamen jede Menge Sympathiebekundungen und Unterstützung. Viele kamen
vorbei, von den Gentrifizierungsgegnern über die Nachbarn und Anwohner bis
hin zu Abgeordneten, die selber jahrelang Berlins neoliberale
Wohnungspolitik vorangetrieben hatten und nun, in der Opposition, angeblich
ihr gutes Gewissen entdeckt haben.
Genau 111 Tage nach Beginn der Besetzung darf nun gefeiert werden: Am
vergangenen Donnerstag hat die BVV fast einhellig einem Antrag von SPD und
Grünen zur Weiternutzung der Villa zugestimmt. Beide Parteien hatten sich
monatelang quergestellt. Jetzt übernimmt die Volkssolidarität als freier
Träger, zumindest für ein weiteres Jahr ist der Erhalt gesichert.
Standesgemäß werden am Samstag Kaffee und Kuchen aufgetischt und auch die
eine oder andere Flasche Sekt geöffnet. Im Garten sind Boxen aufgebaut, die
Sonne scheint, und ein in die Jahre gekommener DJ spielt Gute-Laune-Musik.
Der Andrang ist groß, auch der der Medien, denn die Bewohner erfüllen ein
Kriterium, das sehr hilfreich bei ihrem Unterfangen ist: Sie sind aufgrund
ihres hohen Alters eine Meldung wert. Alte Hausbesetzer, das passt nicht
ins Bild und wird entsprechend verwertet.
Den RentnerInnen daraus einen Strick zu drehen, wäre verrückt, es ist ja
nicht ihre Schuld, dass sie so unglaublich süß wirken. Bei anderen
Besetzungen werden die gern im Hintergrund stehenden Verantwortlichen von
dem Mummenschanz übertüncht, den Polizisten und Demonstranten veranstalten.
Die Medien berichten über das angebliche Chaos, und der Leser glaubt, etwas
erfahren zu haben. In diesem Fall ist dies nicht möglich. Hier wurde das
Versagen der Politik offenbar. Wenn es dazu eine Schar Rentner braucht, ist
es wohl an der Zeit, den „Aufstand der Alten“ anzuzetteln.
„Sie schwitzen ja jetzt schon, dabei haben wir noch gar nicht angefangen“,
begrüßt mich eine verschmitzte Dame, als ich mich brav in die Schlange aus
Kamerateams, Fotografen und Schreiberlingen stelle. Stolz berichtet eine
weitere Dauerbesucherin bei einem Glas Rotkäppchen von dem Moment, als die
Stadträtin selbst vorbeikam, um sich die Schlüssel geben zu lassen: „Wir
haben einfach Nein gesagt.“ Nicht Schadenfreude spricht aus diesem Satz,
sondern das Wissen, richtig gehandelt zu haben.
Generell scheint Pankows SPD-Stadträtin für Soziales eine merkwürdige
Vorstellung von Seniorentreffs zu haben: Am Eingang haben die Bewohner ein
Zitat von Lioba Zürn-Kasztantowicz aufgehängt: „In dem Seniorentreffen
halten sich vermehrt junge Leute auf. Illegale also.“ Diesen erfreulichen
Zustand zu fördern oder gar als Vorbild zu sehen, kam der Politikerin nicht
in den Sinn, ihre Prioritäten scheinen woanders zu liegen.
Inzwischen habe ich das dritte Stück Kuchen in der Hand und bedanke mich
abermals für die Gastfreundschaft. „Na selbstverständlich, wir begrüßen
erst mal jeden freundlich.“ Dazu passt die Geschichte mit den Beamten in
Zivil. Zu Beginn der Besetzung hatten die sich gegenüber der Villa
positioniert, wahrscheinlich um herauszufinden, aus welchen suspekten
Kreisen die Unterstützer kommen. Also haben die Senioren Kaffee gekocht,
ein paar Stullen geschmiert und sind vor die Tür gegangen, um die
Zivilpolizisten ins Haus einzuladen, „wo es ja auch wesentlich gemütlicher
ist als im Dienstwagen“. Die Beamten seien wortlos weggefahren und hätten
sich nie mehr blicken lassen.
21 Oct 2012
## AUTOREN
Juri Sternburg
## TAGS
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
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