| # taz.de -- Aids in Washington: „Kondome haben keine Tradition" | |
| > Besonders unter Afroamerikanern gibt es viele Aids-Infizierte. Weil sie | |
| > arm sind, nicht Bescheid wissen und manchmal nicht Bescheid wissen | |
| > wollen. Das soll sich ändern. | |
| Bild: Angela Wood ist schon seit zwanzig Jahren im Gesundheitszentrum in Anacos… | |
| WASHINGTON taz | Bevor die Green Line den Anacostia River unterquert, | |
| findet im U-Bahnwaggon ein Bevölkerungsaustausch statt. Die weißen | |
| Passagiere steigen aus, die afroamerikanischen fahren weiter. Jenseits des | |
| Flusses liegen Stadtteile, in denen Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne, Armut, | |
| Obdachlosigkeit, Drogenhandel, Teenagerschwangerschaften und die Rate von | |
| HIV-Positiven höher liegen als irgendwo sonst in der Hauptstadt der USA. | |
| „Sie sind kaum gebildet und wissen nicht genug über die Übertragung“, | |
| erklärt Dwayne (40). „Viele haben eine Ahnung von dem Risiko, aber sagen | |
| sich: Ich muss zunächst erst mal meine Familie ernähren“, meint Alesha | |
| (27). | |
| „Sie tauschen Sex gegen Essen“, sagt Amanda (24), „und sie haben nie | |
| gelernt, über sicheren Sex zu verhandeln.“ „Kondome haben keine Tradition | |
| in der afroamerikanischen Community“, steuert Herman (32) bei. | |
| Dwayne, Alesha, Amanda und Herman arbeiten in der Community Education Group | |
| im Südosten von Washington. Sie sind hier aufgewachsen, bei manchen waren | |
| schon die Eltern in den 80er und 90er Jahren „Crackies“. Die jungen Leute | |
| kennen den richtigen Umgangston. Und einige haben Erfahrungen mit illegalen | |
| Tätigkeiten. | |
| Sie haben gedealt. Gehörten einer Gang an. Oder saßen im Gefängnis. „Wir | |
| sind zurückkehrende Bürger“, sagt Alesha. Auf ihrem T-Shirt steht: „Mit H… | |
| leben ist machbar – frag mich, wie es geht“. Sie war drei Jahre lang im | |
| Gefängnis. Ihren neuen Job beschreibt sie so: „Früher habe ich Drogen | |
| verkauft. Jetzt verbreite ich Wissen.“ | |
| Täglich schwärmen die jungen Leuten mit kleinen Bussen voller Kondome und | |
| HIV-Tests an U-Bahnausgängen und auf öffentlichen Plätzen in der | |
| US-Hauptstadt aus. „Okay, ich nehme die Gummis“, hört Amanda oft, „aber | |
| nur, wenn ich sie mit dir benutzen kann.“ Die junge Frau sagt: „Ich lache | |
| das einfach weg.“ Die Männer aus ihrer Gruppe machen ähnliche Erfahrungen. | |
| Und reagieren genau wie sie. | |
| Wenn das erste Eis gebrochen ist, sprechen sie über ihr Hauptanliegen: | |
| Neben Präservativen – bei jedem Sex – propagieren sie regelmäßige HIV-Te… | |
| für alle. Als Anreiz bieten sie einen Muffin und Supermarkt-Einkaufskarten | |
| im Wert von 10 Dollar. | |
| Wenn der erste Schleimhauttest im Bus der Gruppe „reaktiv“ ausfällt, | |
| begleiten sie die betroffene Person gleich in ein nahegelegenes | |
| Gesundheitszentrum zu einem Bluttest. Falls dort ebenfalls ein positives | |
| Ergebnis herauskommt, bietet die Community Education Group Begleitung bei | |
| allen Gängen in den ersten zwölf Monaten nach der Hiobsbotschaft an: zum | |
| Arzt, bei der Besorgung von Lebensmittelmarken und bei der Antragstellung | |
| für Wohnungsbeihilfe. „Viele flüchten sich in Verleugnung“, weiß Dwayne, | |
| „das wollen wir verhindern.“ | |
| Die jungen Aufklärer versuchen, auf der Straße nachzuholen, was anderswo in | |
| den USA verpasst wird. In den Schulen müssen Eltern ihr schriftliches | |
| Einverständnis geben, bevor ihre Kinder am Sexualunterricht teilnehmen | |
| dürfen – und verweigern das immer häufiger. | |
| ## Gefährliches Schweigen | |
| In vielen afroamerikanischen Kirchen sind Homosexualität und HIV/Aids | |
| weiterhin Tabuthemen. Toni Young, die zupackende Direktorin der Community | |
| Education Group, will ihre Community aufrütteln, um das gefährliche | |
| Schweigen zu beenden. | |
| Die Anregungen für ihre Straßenaktionen hat sie bei HIV-Projekten in | |
| afrikanischen Ländern bekommen, die unter anderem mit US-Geldern finanziert | |
| werden. „Wir haben diese Investitionen in Afrika gemacht, um Leben zu | |
| retten“, sagt sie, „davon können wir hier lernen.“ | |
| Angesichts der alarmierenden HIV-Zahlen in der schwarzen Community, gibt es | |
| zahlreiche Versuche, für einen Schock zu sorgen, der die Sitten | |
| durchgreifend ändert. | |
| ## Spritzentausch lange blockiert | |
| Eleanor Norton Holmes, Abgeordnete der Demokraten für Washington, hat | |
| jahrelang im Kongress gegen die Versuche der Republikaner gekämpft, | |
| Bundesmittel für den Spritzentausch in Washington zu blockieren. Sie macht | |
| das lange anhaltende Verbot des Spritzentauschs verantwortlich für die | |
| hohen HIV-Raten in Washington. Doch jetzt versucht die Abgeordnete auch, | |
| ihre eigene Community aufzurütteln und zu einem anderen Umgang mit | |
| Sexualität zu bewegen. | |
| „Afroamerikaner haben meist Sex mit Afroamerikanern: Männer mit Männern und | |
| Männer mit Frauen“, sagt sie in einem Aufklärungsvideo über die | |
| HIV-Epidemie: „Wir verbreiten den Tod unter uns selbst.“ | |
| In einem dramatischen Appell an die „schwarzen Kirchen“, hat sich auch die | |
| Bürgerrechtsbewegung NAACP (National Association for the Advancement of | |
| Colored People) des Themas HIV angenommen. | |
| ## Botschaft Gottes | |
| „Dies ist die Botschaft Gottes“, leitet die NAACP ein Handbuch ein, das sie | |
| in diesem Monat veröffentlicht hat und das sich an die 21.000 „black | |
| churches“ in den USA richtet. Darin gibt sie Pastoren Anregungen für den | |
| Umgang mit HIV-Positiven und für die Prävention gegen Neuinfektionen. | |
| Unter anderem sollen sie von der Kanzel gegen die Stigmatisierung von | |
| Homosexuellen und für regelmäßige HIV-Tests predigen, sowie darüber | |
| aufklären, dass HIV nicht „das Problem der anderen“ ist. | |
| 53 Prozent der Afroamerikaner gehen mindestens einmal pro Woche in eine | |
| Kirche. „Der Glaube in unserer Gemeinschaft ist stark“, sagt Keron Sadler | |
| von der NAACP, die an den zweieinhalbjährigen Vorarbeiten für das Handbuch | |
| beteiligt war, „das war schon in den Zeiten der Sklaverei so, als wir | |
| Hymnen gesungen haben, von denen der Unterdrücker nicht ahnte, dass sie | |
| Gebete waren.“ | |
| ## Das Gesundheitszentrum | |
| Für die NAACP ist HIV ein Problem sozialer Gerechtigkeit. In ihrem Handbuch | |
| zitiert sie die Bibel und Martin Luther King. Und stellt den Kampf für | |
| „Gesundheitsgleichheit“ an die Stelle, an der in den 60er Jahren der Kampf | |
| für Bürgerrechte stand. „Weil wir schwarz sind, haben wir weniger Zugang zu | |
| einer guten Gesundheitsversorgung“, begründet Keron Sadler das Anliegen des | |
| NAACP. | |
| Das gemeinnützige Gesundheitszentrum Family and Medical Counseling im | |
| Herzen des Stadtteils Anacostia existiert seit 1976. Managerin Angela Wood | |
| ist seit zwanzig Jahren dabei. Die Zahl der HIV-Positiven, die das Zentrum | |
| versorgt, ist permanent gestiegen – auf heute 1.200 Patienten. Davon die | |
| Hälfte Frauen. | |
| Für die hohe Infektionsrate mit HIV bei Afroamerikanern macht die Managerin | |
| „ein Zusammenspiel vieler Faktoren“ verantwortlich: „Es reicht von Armut | |
| über Risikoverhalten bis hin zu Drogen und der Stigmatisierung von | |
| HIV-Positiven.“ | |
| ## HIV-Test beim TÜV | |
| Auch das Family Medical versucht HIV-Tests zu einer Gesundheitsroutine für | |
| alle zu machen. Zu diesem Zweck bietet es seit Ende vergangenen Jahres | |
| Tests am Ort der Kfz-Prüfstelle in Washington an. Während Autofahrer auf | |
| den TÜV warten, können sie einen HIV-Test machen. 9.000 Personen haben | |
| davon bislang Gebrauch gemacht. | |
| James Browne moderiert einen Gesprächskreis für Männer im Family Medical. | |
| Sechs bis zwölf HIV-positive Männer treffen sich jeden Montag unter dem | |
| Motto „Courage to change“. Der 49-jährige Browne bezeichnet sich selbst als | |
| „Überlebenden“ – er ist HIV-positiv seit 26 Jahren. Anfangs hat er seine | |
| Infektion lange verheimlicht. Auch vor Sexualpartnern. | |
| „Es war einfacher, ein Cracky zu sein als ein HIV-Positiver“, begründet er | |
| sein Verhalten, „vor einem HIV-Positiven hatten alle Angst und Ekel.“ | |
| Inzwischen betreibt Browne geschützten Sex. Und empfiehlt dasselbe auch | |
| High-School-Schülern, wenn deren Eltern es ihnen erlauben, zu seinen | |
| Vorträgen zu kommen. | |
| ## Wir passen nicht auf“ | |
| „Weiße Homosexuelle betreiben viel mehr safer Sex“, sagt Browne, „wir | |
| hingegen sind sexuell sehr aktiv. Aber wir passen nicht auf unsere | |
| Gesundheit auf. Und wir sind die Letzten, die zum Arzt gehen.“ Hinzu kommt | |
| eine Kultur von Familiengeheimnissen. | |
| „Wir sind sehr verschwiegen“, sagt Browne. Erzählt von HIV-Fällen, die | |
| ganze Familien ignoriert haben und von der psychiatrischen Anstalt in | |
| Anacostia, über die er schon als Kind wusste, dass sie für „verrückte | |
| Weiße“ sei: „Unsere eigenen verrückten Onkel verstecken wir zu Hause.“ | |
| Claudia ist eine der Frauen, die Opfer von Doppelleben geworden ist. Vor | |
| zwölf Jahren erfuhr sie bei einer Routineuntersuchung, dass sie HIV-positiv | |
| ist. Ihr langjähriger Partner, der von seiner Infektion wusste, hatte sie | |
| angesteckt. „Es war sehr hart für mich“, sagt Claudia. | |
| ## Alles falsch gemacht | |
| Sie gab ihre Arbeit als Briefträgerin auf, versteckte sich, bekam eine | |
| Depression, glaubte, dass sie sterben würde, und lehnte jede medizinische | |
| Hilfe ab. Rückblickend sagt sie: „Ich habe alles falsch gemacht.“ | |
| Erst nach drei Jahren Flucht suchte Claudia Hilfe in der Family Medical. | |
| Die inzwischen 55-Jährige lebt von 270 Dollar Sozialhilfe im Monat, bekommt | |
| Lebensmittelmarken und Wohnungsbeihilfe. Und schätzt sich „glücklich“, we… | |
| ihre Verwandten zu ihr gehalten haben. Und weil ihre Black Church – die | |
| „Inner Light Ministries“ – sich im Kampf gegen HIV engagiert. | |
| In ihrer Gemeinde in Anacostia kommen nach dem Gottesdienst manchmal andere | |
| Gläubige zu ihr und wollen „reden“. Dann weiß Claudia, dass sie wieder | |
| jemanden bei den ersten Schritten zur Behandlung begleiten muss. | |
| 22 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
| ## TAGS | |
| Sex | |
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