| # taz.de -- Kolumne Blicke: Die ADHS-Senioren | |
| > Verzogene Kinder sind gar nicht das Problem. Die rüpelhaften Alten, die | |
| > im Herbst ihres Lebens stehend permanent Krawall schlagen müssen, sind | |
| > viel, viel schlimmer! | |
| Wer den Urlaub mit einem dreijährigen Italiener mit R-Schwäche verbringt – | |
| mag schon sein, dass der parteiisch wird. Der junge Mann nannte sich selbst | |
| „Bluno“, nach den Frühstückspops verlangte er als „Celeali“, und mich | |
| nannte er folgerichtig „Amblos“. | |
| Parteiisch also: Ich mag Kinder. Auch hässliche. Auch dumme. Auch blonde. | |
| Das mag daran liegen, dass ich wohl nicht mehr aufhören werde, auf die Welt | |
| der Erwachsenen als eine der unfreiwilligen Komik beziehungsweise des | |
| gemeingefährlichen Irrsinns zu blicken – von Syrien bis München. In München | |
| fragte mich ein älterer Herr, ob ich geistig noch auf der Höhe sei. Eine | |
| Frage, die ich, wenn ich geistig auf der Höhe gewesen wäre, unbedingt mit | |
| Nein beantwortet hätte, ergänzt durch: „Noch nie!“ | |
| Was war geschehen? Ich hatte auf einem gemischten Rad-Fußgängerweg – eine | |
| Erfindung, die so sinnvoll ist wie freiwillige Selbstbeschränkung für | |
| Uranverkäufer – dem Waffen-SS-gebräunten Mittsechziger (Oder Siebziger? Man | |
| weiß es ja heute nicht mehr!), der mich und die Kinder aus dem Weg | |
| geklingelt hatte, ein fröhliches „Des is fei koa Autobahn“ nachgerufen. Der | |
| kurzbehoste Alt-Rowdy hielt prompt an und stellte mir die oben genannte | |
| Frage. Daraus entspann sich ein unerfreulicher Dialog, den ich mit dem | |
| Satz, er möge schauen, dass er weiterkäme, abbrach, um selbst, die Kinder | |
| um mich scharend, meiner Wege zu gehen. | |
| Als Kind habe ich alte Menschen immer sehr geliebt. Vor allem bewunderte | |
| ich einen Dr. H., der im Sommer im Garten meiner Großmutter weilte. Dr. H. | |
| trug Freizeithemd und kurze beige Hose, aber sonst hatte er keine | |
| Ähnlichkeit mit dem Powerradler. Dr. H. hatte nach allem, was man hörte, | |
| ein wildes Leben hinter sich als Frauenarzt des heimatlichen Städtchens. | |
| Nun saß er auf dem Campingstuhl im Schatten, vor sich einen Eimer mit | |
| kaltem, von uns immer wieder bereitwillig aufgefrischtem Wasser voller | |
| Dornkaat-Fläschchen. Er nahm einen Schluck, rauchte Roth-Händle, nahm einen | |
| Schluck. Sonst tat er nichts. Er wirkte unheimlich würdig dabei. | |
| Ob ich wegen Dr. H. später drei Jahre in der Altenpflege gearbeitet habe, | |
| weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich genau an meinen ersten | |
| Arbeitsmorgen als Zivi. Ich sollte frühmorgens das winzige Zimmer betreten, | |
| in dem zwei alte Damen wohnten, die nicht mehr ganz kontinent waren – und | |
| schaffte es nicht. Und schaffte es dann doch. Und pflegte sie und andere, | |
| und wir verstanden uns prima. | |
| Das Problem mit den modernen Zappelphilipp-Senioren ist, dass sie nicht alt | |
| werden, dass sie nicht stillhalten wollen. Und dass sie sich für wichtiger | |
| halten, als sie sind. Sie pöbeln rum, klingeln einen aus dem Weg, schubsen | |
| Kinder weg. Sie sind auf das moderne, demokratische Leben, in dem Kinder | |
| die gleichen Rechte haben wie sie und sogar noch mehr Rechte, weil sie | |
| tendenziell immer noch schwächer sind, nicht vorbereitet. | |
| Zu fordern wären also staatliche Integrationskurse für die ADHS-Senioren. | |
| Sonst kommt es irgendwann zur Selbstjustiz. Und Oberschenkelhalsbrüche | |
| sollen ja ganz schlecht heilen ab sechzig. | |
| 1 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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