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# taz.de -- Gentrifizierungsgegner in Berlin: Nuriye und Kalle wollen bleiben
> Nirgendwo in Berlin steigen die Mieten so rasant wie in Kreuzberg.
> Dagegen hat sich eine Allianz gebildet, die türkische Familien und junge
> Migranten mit Kiez-Aktivisten verbindet.
Bild: Es ist was es ist, sagt die Liebe …
BERLIN taz | Ein Geiger schrammelt revolutionäre Kampflieder, ein kleiner
Pulk spendet ihm Applaus. Viele hier tragen Rucksäcke, Cargohosen oder
schwarze T-Shirts, es ist der klassische Look der Kreuzberger Linken. An
diesem Tag aber hat es sie weit weg von ihrem Heimatbezirk, etwa acht
Kilometer quer durch die Innenstadt, in Berlins bürgerlichen Stadtteil
Charlottenburg verschlagen.
Vor dem Haus, in dem die Vermögensverwaltung Falstaff ihren Sitz hat,
demonstriert das „Bündnis gegen Zwangsräumung“. Auf einem Transparent
prangt die Losung: „Ob Nuriye oder Kalle, wir bleiben alle“. Inmitten der
Menge thront Nuriye Cengiz, die damit gemeint ist, in ihrem Rollstuhl. Als
die 63-Jährige das Mikrofon bekommt, erzählt sie mit lauter Stimme die
Geschichte, wie sie von ihrem Vermieter ausgetrickst wurde, schimpft auf
die Politik und bricht zwischendrin fast in Tränen aus.
Die türkische Rentnerin ist zur Symbolfigur für die Opfer der steigenden
Mieten in Berlin-Kreuzberg geworden. Schon mit der Wiedervereinigung rückte
die Szene- und Migrantenenklave, die jahrzehntelang im Schatten der Mauer
vor sich hin dämmerte, abrupt ins Zentrum der Stadt zurück. Doch erst jetzt
schlägt das in entsprechenden Preisen auf dem Wohnungsmarkt durch. Die
treffen die Bewohner nun mit umso mehr Wucht: Bei Neuvermietungen
verzeichnet der Bezirk derzeit den relativ höchsten Anstieg in der ganzen
Stadt.
## Neukölln + Kreuzberg = „Kreuzkölln“
Auch Nuriye Cengiz ist davon betroffen, obwohl sie streng genommen in
Neukölln lebt – allerdings in jenem Teil, der wegen seiner Nähe zu
Kreuzberg auch „Kreuzkölln“ genannt wird. Hier teilt sie sich mit ihren
beiden Katzen und zwei Kaninchen eine kleine Wohnung, deren Wände
Koranverse schmücken.
In letzter Zeit sitzt bei ihr häufiger Sandy Kaltenborn auf dem Sofa, beide
rauchen dann ihre Selbstgedrehten. Der 43-Jährige trägt Hornbrille,
Seitenscheitel, eine Jeansjacke mit Buttons – und man merkt, dass ihm
Nuriye Cengiz’ aufmüpfige Art gefällt. „Viele ältere Migranten haben Ang…
ihre Rechte geltend zu machen“, sagt er, doch Nuriye Cengiz bilde da eine
Ausnahme: An ihre Fenstern hat sie außen Zettel angebracht, mit denen sie
auf ihre Situation hinweist. „Ich, Rentnerin, im Rollstuhl, soll raus und
will nicht“, steht da. Oder: „Hier wird gentrifiziert“.
Seit 1969 lebt Nuriye Cengiz in Berlin, bis 1990 schraubte sie hier
Telefone zusammen. Wie viele türkische Migranten verlor sie nach dem
Mauerfall ihren Job. Als der neue Eigentümer vor ein paar Jahren ihr Haus
erwarb, setzte er die Mieten drastisch herauf, ihre stieg von 386 auf 626
Euro – zu viel für das Sozialamt, das ihre Miete bezahlt. Fast alle
Nachbarn sind inzwischen ausgezogen, ihre Wohnungen wurden verkauft, nur
Nuriye Cengiz harrt im Erdgeschoss noch aus und prozessiert.
## „Prekärer Kreativarbeiter“
Auch Sandy Kaltenborn hat, als Sohn deutsch-afghanischer Eltern, einen
Migrationshintergrund. Als „prekärer Kreativarbeiter“, wie er sich selbst
bezeichnet, gehört der Grafikdesigner aber zu den Besserverdienenden in
seinem Neubaublock am U-Bahnhof Kottbusser Tor, der nicht weit von Nuriye
Cengiz’ Wohnung entfernt liegt. In den rund 1.000 Exsozialwohnungen leben
überwiegend türkischstämmige Familien, viele von Hartz IV. Bei fast 80
Prozent von ihnen geht rund die Hälfte des Einkommens für die Miete drauf.
Die Gegend um den U-Bahnhof Kottbusser Tor ist kein schönes Pflaster. Nicht
zufällig stabreimte Peter Fox in seinen Hits das Wort „Kotze“ auf „Kotti…
Auf einer Seite des Platzes versammelt sich traditionell die Junkieszene
der Stadt, Spritzen im Hauseingang sind keine Seltenheit. Die südlich
gelegene Hochhaussiedlung dagegen ist überwiegend türkisch geprägt: Dort
unterhält der Fußballclub Türkiyemspor sein Vereinslokal, eine türkische
Bank hat hier ihre Filiale, und eine Ladenstraße nennt sich „Orient-Basar“.
Nun droht die Gentrifizierung. Deshalb hat sich Sandy Kaltenborn einer
Initiative angeschlossen, die eine verbindliche Obergrenze für die Mieten
der privatisierten Sozialbauten fordert. Der Senat könnte dazu beitragen,
indem er auf Zahlungen der neuen Eigentümer verzichtet. Das Bündnis nennt
sich „Kotti & Co“ und ruft hin und wieder zu „Lärmdemos“ auf. Mit
Trillerpfeifen und Kochtöpfen ausgerüstet, ziehen die Demonstranten durch
den Bezirk. Am Samstag ist es wieder so weit.
## Ein festes Lager am Kotti
Im Schatten des Hochhäuser am Kotti haben die Protestierer seit einigen
Wochen sogar ein festes Lager aufgeschlagen. Ein Palettenholzverschlag, den
ein Architekt konzipiert hat, dient als Info-Stand, aus einem Samowar wird
dort Tee ausgeschenkt. Sandy Kaltenborn hat dazu die „I love
Kotti“-Aufkleber entworfen, die jetzt überall in der Umgebung kleben. Ein
Renner sind auch die „Hello Kotti“-Buttons mit dem zwinkernden Gesicht
einer Katze, die eine Sicherheitsnadel im Ohr trägt.
Ironie der Geschichte: Erst durch das Protestcamp ist hier ein Treffpunkt
entstanden, der den unwirtlichen Platz schmückt und verschiedene Milieus
zusammenbringt. Auf den Holzbänken tauschen sich nun türkische Frauen mit
Kopftuch mit deutschen Malochern und mit den Kiez-Aktivisten aus, die
gegenüber den „Südblock“ eröffnet haben, eine Bar mit schwul-lesbischer
Showbühne. Es ist eine Szene, wie sie Gerhard Seyfried in seinen legendären
Kreuzberg-Cartoons nicht schöner hätte zeichnen können.
„Ich bringe manchmal Brötchen vorbei“, sagt Kreuzbergs grüner
Bezirksbürgermeister Franz Schulz und lacht. Viel mehr kann er auch nicht
tun, außer zu versuchen, Gespräche zwischen den Protestlern, der
Stadtverwaltung und dem Senat in Gang zu bringen. Aber der hat Angst, einen
Präzedenzfall zu schaffen und damit Nachahmer auf den Plan zu rufen, wenn
er den Protesten am Kotti nachgibt.
Denn der Kotti ist in Kreuzberg keine Ausnahme. Im nahe gelegenen
Wrangelkiez ist der Anteil der türkischstämmigen Bevölkerung in den letzten
zehn Jahren um rund ein Drittel gesunken. An deren Stelle sind Neuberliner
aus Ländern wie Frankreich und Spanien getreten.
## Rückfall in Heinrich-Zille-Zeiten
Anderswo, in den Neubauten am Mehringplatz, rücken die Bewohner auf dem
teuer gewordenen Raum enger zusammen. „Erst mal wird gespart – am Urlaub,
am Essen“, hat auch Sandy Kaltenborn festgestellt. „Oder aber andere
Familienmitglieder ziehen dazu.“ Bezirksbürgermeister Franz Schulz zeigt
sich über diesen Rückfall in Heinrich-Zille-Zeiten entsetzt. „Die
Zukunftschancen der Kinder sinken doch, wenn sie in der eigenen Wohnung
keinen Ort mehr finden, wenn sie in Ruhe ein Buch lesen wollen“, warnt der
Politiker.
Kreuzbergs Bevölkerungsstruktur war schon immer ein Politikum. Bis zum
Mauerfall bekamen einige Türken in Berlin sogar einen Stempel in ihren
Pass, der es ihnen untersagte, in Bezirke wie Kreuzberg zu ziehen. Mit
dieser „Zuzugssperre“ wollte der Senat eine Gettobildung verhindern. Jetzt,
wo steigende Mieten viele alteingesessene Migranten aus dem Bezirk
verdrängen, vermuten nicht wenige von ihnen Absicht dahinter. „Die wollen
keine Ausländer mehr hier haben“, lautet eine verbreitete Ansicht.
Noch aber prägen türkische Einwanderer das Bild des Bezirks, in dem die
Bäckereien „Melek“ heißen und die Blumenläden „Dilek“. Viele von ihn…
haben sich auf den Touristenstrom eingestellt, der sich jetzt tagtäglich
zwischen Oranienstraße und Schlesischem Tor ergießt. Selbst ein klassisches
türkisches Männercafé wie das Altin Köse am Oranienplatz bietet jetzt
Bionade und Club-Mate an. Denn die Gegend ist zum Partykiez geworden,
abends herrscht hier fast schon Ballermannstimmung. Das Dönerrestaurant
Hasir, das keinen Alkohol verkauft, aber dafür rund um die Uhr geöffnet
hat, hat deshalb kräftig erweitert, zuletzt eröffnete es gegenüber dem
Stammladen noch einen Hamburger-Imbiss.
## Die Ärmsten ziehen weg
Es sind die Ärmsten, die wegziehen müssen. Der türkische Mittelstand in
Kreuzberg hingegen ist bislang von Verdrängung kaum betroffen. Allerdings,
hat Bezirksbürgermeister Franz Schulz festgestellt, wohnen viele der
erfolgreichen Migranten nicht mehr im Bezirk, sondern kommen nur noch zur
Arbeit nach Kreuzberg.
Der Bauunternehmer Hüseyin Celik gehört zu diesem Mittelstand, aber seinem
Bezirk ist er treu geblieben. An einem sonnigen Nachmittag steht er, mit
mächtigem Schnurrbart und massivem Körperbau eine imposante Erscheinung,
zwischen Betonmischer und Schubkarren auf einem Hof und dirigiert ein gutes
Dutzend Arbeiter. Er hat das Haus erst kürzlich zu einem guten Preis
gekauft – hier, im östlichsten Winkel von Berlin-Neukölln geht das noch.
Hüseyin Celik ist ungefähr so alt wie seine Landsmännin Nuriye Cengiz und
lebt wie sie seit den Sechzigerjahren in Berlin. Damit aber enden schon die
Gemeinsamkeiten. 35 Jahre arbeitete Hüseyin Celik als Polier, bevor er sich
in den Neunzigerjahren selbstständig machte. Damals boten ihm die
städtischen Wohnungsbaugesellschaften mitten in Kreuzberg, wo sich heute
die touristischen Trampelpfade kreuzen, ganze Häuserzeilen zum Kauf an.
„Ein Fehler“ sei es gewesen, bedauert er, damals nicht stärker zugeschlagen
zu haben. „Aber ich hatte Angst, das Risiko erschien mir zu groß.“
Für seine Familie reichen die paar Häuser, die er jetzt besitzt, aber auch
so. „Kreuzberg ist eine gute Ecke“, findet Hüseyin Celik. Anderswo müsse
man schon dafür bezahlen, wenn man sich nur eine Zigarette borge. In
Kreuzberg sei das anders: „Die Leute helfen sich gegenseitig“.
So wie jetzt am Kotti.
3 Aug 2012
## AUTOREN
Daniel Bax
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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