# taz.de -- St. Pauli und die Gentrifizierung: Hipster's Paradise | |
> Mit dem steigenden Quadratmeterpreis in St. Pauli schwindet die | |
> bürgerliche Angst vor dem Kaputten. Stattdessen erfüllen sich die | |
> Sehnsüchte des neoliberalen Menschen. | |
Bild: Behaglich, gemütlich, nachbarschaftlich, persönlich, kinderfreundlich, … | |
Das alte Haus in St. Pauli war lange eine Arme-Leute-Adresse. Jetzt | |
verwandelt es sich. Investoren haben es entdeckt, Wohneigentümer begehren | |
es. Sie lassen sich nicht abschrecken, obwohl vieles im Umfeld unverändert | |
ist: Immer noch steht gegenüber das Hotel, vor dem unablässig Herrengruppen | |
aus deutschen Provinzen den Reisebussen entsteigen und mit glänzenden | |
Blousons, akkuraten Frisuren und stechendem Rasierwasser ihrem Aufenthalt | |
auf der geilen Meile entgegenfiebern. | |
Unweit des alten Hauses ist der „Hamburger Dom“ – ein Jahrmarkt, der | |
dreimal jährlich für je einen Monat massenhaft Publikum anzieht. Das | |
Stadion des FC St. Pauli ist auch nicht weit. Torjubel und Schlachtgesänge, | |
Freitagsfeuerwerke, Achterbahnschreie und Hupkonzerte parkplatzsuchender | |
Autofahrer gehören zur Geräuschkulisse dieser Wohnlage dazu. | |
In den letzten zwei Jahrzehnten lebten in diesem Haus ein Jungkoch, ein | |
Kirchenmusiker, ultralinke wie grüne Lokalpolitiker, ein Künstler, ein | |
Dealer, ein Kranker sowie Dutzende Studenten. | |
Ich wohnte in den späten 80er bis frühen 90er Jahren als Jugendliche dort, | |
inmitten komplizierter Familien- und WG-Verhältnisse. Der Vermieter war ein | |
Kaufmann aus dem noblen Blankenese, der weder für eine Hausverwaltung oder | |
einen Hausmeister noch für regelmäßige Hausreinigung Geld ausgab. | |
Gelegentlich tauchte er auf im Wildlederblouson und klingelte überraschend. | |
Er wisse ja, raunte er im Treppenhaus verbleibend, dass seine Mieter in | |
wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen lebten, aber sie sollten sich doch | |
bitte besser um das Haus kümmern, bei der niedrigen Miete bliebe für | |
Verschönerungen nichts übrig. | |
Seine zaghaften Versuche, die Miete zu erhöhen, waren selten erfolgreich. | |
Man brauchte ihn nur aufzufordern, eine Vollmacht seiner Gattin | |
vorzuweisen, der eigentlichen Eigentümerin, und hörte lange nichts mehr von | |
ihm. | |
Dieser Kaufmann nun hielt uns wohl für zu arm, schlitzohrig und | |
perspektivlos, als dass er uns mit korrekten Betriebskostennachforderungen | |
kam. Und wir hielten ihn für zu knauserig, linkisch und überfordert, als | |
dass wir ihn mit kleineren Reparaturen belästigten. Man wusste, was man | |
aneinander hatte, und um nichts in der Welt hätte man mit dem Stadtteil, | |
der Klasse oder ästhetischen Orientierung des anderen tauschen wollen. | |
Dieses menschlich befriedigende Arrangement endete für die Altmieter | |
kürzlich, als der Kaufmann das Haus verkaufte. Der neue Besitzer betreibt | |
die gewerbemäßige „Vermittlung von Grundstücken, Gebäuden und Wohnungen“ | |
und wirbt auf seiner Webseite mit seinem ausgeprägten „Riecher für die | |
Entwicklungen von morgen“. Er ließ das Haus anstreichen und neue Heizungen | |
und Klorohre installieren. Die Mieter wurden, je nach Verhandlungsposition, | |
mit und ohne „golden handshake“ verabschiedet. | |
## Szeneviertel mit kotz-pissenden Touristen | |
Die frei gewordenen Einheiten kamen nun arg gepriesen auf den Markt: | |
beliebter Stadtteil, Szeneviertel, Gründerzeitbebauung, vielfältige | |
Restaurant- und Gastronomieangebote, Elbspaziergang. Knapp eine halbe | |
Million Euro wurden erfolgreich für den vierten Stock aufgerufen – für | |
sechs Zimmer, unsaniert, ohne Aufzug, aber mit neuem Balkon mit Blick in | |
den taubenverschissenen dunklen Innenhof hinein. Eine Überwachungskamera am | |
Eingang wird vielleicht dafür sorgen können, dass sich kotz-pissende | |
Touristen nicht mehr so oft im Treppenhaus entleeren. | |
Als ich Abiturientin war, verließ ich jeden Morgen das Haus, um im | |
Stadtteil Eppendorf eine gutbürgerlich geprägte Gesamtschule zu besuchen, | |
eine Vorzeigeschule, in die SPD-Senatoren ihre Kinder schickten. Den Eltern | |
meiner Mitschüler und -schülerinnen erzählte ich nicht gern, wo ich wohnte, | |
die guckten dann komisch, was kränkend war. | |
Ich fühlte mich aber in St. Pauli wohl, geradezu frei, idealisierte die | |
Menschen dort und alle Reize – bis auf die Schulen –, obwohl Kinder, die in | |
St. Pauli aufwuchsen, immer gefährdet waren. Mein Halbbruder, der in St. | |
Pauli geboren wurde und aufwuchs, verlor während seiner Schullaufbahn vier | |
Klassenkameraden: Ein Mädchen wurde von einem Lkw überfahren, ein anderes | |
ertrank in der Elbe. Zwei Jungs fanden eine Waffe, der eine Junge erschoss | |
seinen Freund auf dem Spielplatz. Die Familie des überlebenden Kindes | |
musste die Stadt verlassen aus Angst vor der Rache der Hinterbliebenen. | |
Alles Vorfälle, die auch in der Zeitung standen. | |
Vor allem aber waren es die Berichte über Bandenkonflikte, Gaunereien, | |
Menschenhandel, Polizeijagden und Hausbesetzer, die dazu beitrugen, dass | |
man komisch angeguckt wurde, wenn man sagte, man lebe „auf“ St. Pauli. | |
Dieser Blick war Ausdruck von Respekt, Distanz und Angst. Die Angst gehörte | |
zum Image des verruchten Amüsierbezirks dazu, aber war deshalb nicht | |
falsch. | |
St. Pauli ist und bleibt die Härte, auch wenn die Immobilienpreise nun | |
fantastisch anziehen, viele Arbeiterkneipen verschwunden und die Läden, | |
Cafés und Restaurants jetzt auf bio, Dinkel und edel gepolt sind. St. Pauli | |
bleibt der Ort, wo jedes Wochenende eine halbe Million Menschen zum Tanzen, | |
Saufen, Fressen, Feiern, Jubeln, Brüllen, Kämpfen, Ficken, Kotzen anrücken | |
– und dabei ihre Spuren auf den Straßen, Spielplätzen, an den Bäumen und | |
Büschen und auch in den Hinterhöfen und Treppenhäusern hinterlassen. | |
## Bugaboo statt Ficken | |
Deshalb ist es auch eine Verwunderung wert, dass die Angst und Distanz vor | |
St. Pauli in gutbürgerlichen Kreisen verschwunden ist. Heute muss man vor | |
der ehemaligen Kneipe Pickenpack – „Willst du ficken, juckt der Sack, musst | |
du nur ins Pickenpack“ (Hamburger Volksmund) – nicht mehr die Aufreißer | |
fürchten, eher den Raumanspruch Bugaboo-fahrender Müttergruppen auf ihrem | |
Weg in das nächste glutamatfreie Asiarestaurant. | |
Das alte Haus steht natürlich exemplarisch für viele Häuser St. Paulis und | |
deren Bewohner. Die Veränderung von Wohnlagebeschreibung, Preis und Wert | |
führt zu einer Bevölkerungsveränderung im Stadtteil. Das Phänomen aber | |
ausschließlich mit dem Wort Gentrifizierung zu versehen, greift zu kurz. | |
Im Ausschöpfen wirtschaftlicher Potenziale innenstädtischer Wohnbereiche, | |
ohne Rücksicht auf altvordere Milieus, Traditionen und Werte, zeigt sich | |
vielmehr die exakte Handschrift des neoliberalen Projekts, das spätestens | |
seit der Hartz-IV-Gesetzgebung die Gesellschaft konsequent fit und schlank, | |
beweglich, wettbewerbsfähig und leistungsorientiert machen will und dem | |
sich kaum ein Individuum und kaum eine Gruppe entziehen kann – und nur | |
wenige würden dies eigentlich wollen. Profitieren doch auch ehemalige | |
Außenseitergruppen davon. | |
Homosexuelle, Frauen, Migranten – auch sie sind Teil eines | |
leistungsorientierten Umwertungsprozess, sie sind aufgefordert, mit zu tun, | |
sich zu strecken, in Richtung Wohneigentum. | |
Auch die meisten Altmieter aus dem Haus in St. Pauli müssen nicht | |
bemitleidet werden, sie sind well off: Aus dem Jungkoch wurde ein | |
Gastronom, aus der linken Politikerin eine Wissenschaftlerin, aus dem | |
Dealer ein skrupelloser hanseatischer Unternehmer, aus dem Künstler ein | |
Preisträger. Nur der Kirchenmusiker und der Kranke können nicht mit der | |
Zeit gehen. Sie hören schlecht, gehen langsam, verhalten sich ungeschickt. | |
Sie sagen, die Zeit sei kalt, schweinisch, rücksichtslos. | |
## Sehnsüchte neoliberaler Menschen | |
Hört man dagegen den neuen Bewohnern St. Paulis zu, wenn sie darüber | |
sprechen, warum sie dorthin ziehen, erfährt man, in welch erfüllten | |
Sehnsüchten neoliberale Menschen leben: behaglich, gemütlich, | |
nachbarschaftlich, persönlich, kinderfreundlich, ökologisch, biologisch, | |
verdaulich, fair, schick ist es, wo sie sind. | |
Hipsters Paradise. Sie merken nicht, dass Werte beschworen werden, die | |
eingekauft sind: das Flair von Solidarität aufgrund von Solidität. Alle | |
anderen Wahrnehmungen St. Paulis scheinen dagegen antiquiert oder | |
übergangssituativ. Sie werden ignoriert. Und das ist vielleicht die | |
Schwachstelle des Neoliberalismus: Er sieht nicht das ganze Bild, er liest | |
nur das Portfolio. | |
Sarah Khan, 1971 in Hamburg geboren, ist Schriftstellerin (u.a. "Die | |
Gespenster von Berlin", Suhrkamp 2009) und lebt in Berlin | |
5 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Sarah Khan | |
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