# taz.de -- Mainzer schaffen sich Kulturzentrum: Das ist euer Haus | |
> Weil der Stadt die Mittel fehlen, organisieren sich Mainzer BürgerInnen | |
> ihr Kulturprogramm jetzt einfach selbst. Sie besetzen ein Gebäude als | |
> Kulturzentrum. | |
Bild: Besetzt, und jetzt? Die Stadtverwaltung hat kein Verständnis für das �… | |
MAINZ taz | In der Nacht vom 2. auf den 3. August schlugen ihre ersten | |
Stunden als Hausbesetzer. Teils mit zitternden Händen haben sie bunte, | |
handgemalte Banner an die Fassade eines leerstehenden Hauses am Rande des | |
Mainzer Industriegebiets gehängt, nachdem sie in das Gebäude eingedrungen | |
waren. Die Banner schlottern immer noch an der Wand. „Gesellschaft braucht | |
Freiräume“, „Besetzt“ und „Hier entsteht ein Gegenvorschlag“ ist dar… | |
lesen. | |
Die Hausfassade erinnert nun an Bilder aus der Zeit der Bürger- und | |
Studierendenbewegungen der 60er und 70er Jahre – an die Zeit also, als die | |
Grünen noch mit Plakaten warben, auf denen „Wie wär es mal mit Besetzen?“ | |
stand, und an die „Häuserkämpfe“ in Westberlin zu Beginn der 80er. „Das… | |
unser Haus (?)!“, hatten die damaligen Hausbesetzer den „Rauch-Haus-Song“ | |
von Ton Steine Scherben nachgegrölt und sich in ihrem neuen Zuhause | |
verbarrikadiert. | |
Die Mainzer HausbesetzerInnen scheinen das anders zu sehen. „Ihr“ Haus soll | |
ein Kulturzentrum für alle werden, und das Banner mit dem „Gegenvorschlag“ | |
bezieht sich sehr konkret auf die Umstände der heutigen Zeit. | |
Das Defizit der kommunalen Haushalte ist im letzten Jahr deutlich | |
zurückgegangen. Dennoch schieben viele Kommunen immer noch einen riesigen | |
Schuldenberg vor sich her. Für unkommerzielle, kulturelle Projekte bleibt | |
häufig weder Platz noch Geld. Mainz ist bei weitem nicht die einzige Stadt, | |
die davon betroffen ist, glaubt die Hausbesetzerin Anika*. Sie öffnet das | |
selbstgebaute Hoftor des neuen Kulturzentrums, das aus der Besetzung | |
hervorgegangen ist. | |
Hier soll ein Lösungsvorschlag für das Sparzwangproblem entstehen, ihr | |
Selbstverständnis hat die noch namenlose Gruppe im Internet veröffentlicht. | |
„Wir versuchen, mit unserem Projekt einen Raum frei von Zwang zu Kauf und | |
Verkauf zu bieten, einen Raum, dessen Ziel es nicht ist, Profite zu | |
erwirtschaften und der niemandes Eigentum ist“, steht dort geschrieben und | |
auch, dass er hierarchiefrei sein soll, offen für alle, die mitmachen | |
wollen. Seminare, Workshops, Diskussionen, Ausstellungen sowie Konzerte | |
soll der neu geschaffene Freiraum beheimaten. | |
## „Niemandes Eigentum“ | |
„Seit dem ersten Tag der Besetzung haben wir das meiner Meinung nach gut | |
umgesetzt“, freut sich Anika und blickt zufrieden in den Hof des Hauses. | |
Über die letzten Jahre stand es leer. Zwischenzeitlich sollte es als | |
Materiallager für die Stadtwerke dienen, schließlich wurde es dann aber | |
doch dem langsamen Verfall überlassen. Seit einigen Tagen haben | |
BesetzerInnen und BesucherInnen Haus und Hof wieder mit Leben gefüllt. | |
Ein Yoga-Workshop findet gerade auf Teppichen und Matten statt, die dicht | |
nebeneinander auf den Boden gelegt wurden. Auf einem alten Sofa daneben | |
bringt ein Mädchen einem älteren Herrn Gitarrengriffe bei. Junge Menschen | |
laden Müll und alte Autoteile, die sie im Haus gefunden haben, auf einen | |
wachsenden Schuttberg ab. Der soll später sortiert und zur Entsorgung | |
gebracht werden. | |
„Für viele Menschen ist Kultur zu einem Gut geworden, das man nur noch | |
genießen kann, wenn man Eintritt zahlt und in die Rolle des Zuschauers | |
schlüpft.“ Anika deutet auf eine Liste, wo jeder Workshops eintragen kann, | |
die man gern anbieten möchte. Die Liste ist ziemlich voll. Hier scheint der | |
Zuschauer aufgestanden zu sein, um sich selbst eine Bühne zu bauen – ohne | |
vorher um Erlaubnis zu bitten. | |
„Unser ’Gegenvorschlag‘ kann auch als Anstoß aufgefasst werden, darüber | |
nachzudenken, was Kultur eigentlich ist. Für mich und viele andere hier ist | |
es nicht das, worüber ich in den Feuilletons der Zeitungen lese, sondern | |
was zum Anpacken“, sagt sie und verabschiedet sich eilig. Sie möchte am | |
Presseworkshop teilnehmen, der gerade im Haus stattfindet. Dort wird den | |
AktivistInnen beigebracht, wie man den Nachrichtendienst Twitter benutzt | |
und die Webseite des Kulturzentrums ordentlich verwaltet. | |
Um acht Uhr abends sind über 40 Menschen in einem großen Sitzkreis zum | |
täglichen Plenum versammelt. Schülerinnen mit Nietenarmbändern und seitlich | |
abrasierten Haaren sitzen neben bebrillten, grauhaarigen Herren und | |
entscheiden gemeinsam, wie es mit dem besetzten Haus weitergehen soll. Ein | |
Gesprächstermin mit den Eigentümern des Geländes, den Stadtwerken, wurde | |
für den Beginn der Woche vereinbart. Diese haben den BesetzerInnen im | |
Vorfeld eine Nachricht zukommen lassen: Das Unternehmen könne sich nicht an | |
einer politischen Diskussion beteiligen, da es politisch neutral sei. | |
Weiterhin würde es als Eigentümerin strafrechtlich belangt werden, wenn | |
jemand im Gebäude zu Schaden kommen würde. Schon deshalb könne man den | |
bestehenden Zustand nicht akzeptieren. | |
## Ein vermülltes Haus aufräumen | |
Im Plenum werden nun mögliche Verhandlungsstrategien diskutiert. Wer schon | |
mal der Entscheidungsfindung auf einer „Assamblea“ von Occupy beigewohnt | |
hat, wird sofort wiedererkennen, dass die HausbesetzerInnen und ihre | |
UnterstützerInnen nach denselben Gesprächsregeln verfahren: auch hier | |
werden Hände zum Zeichen der Zustimmung geschüttelt, auch hier werden | |
Entscheidungen nur gefällt, wenn alle Teilnehmenden einverstanden sind, und | |
auch hier kann jeder Mensch dazukommen, der Lust hat, sich zu beteiligen. | |
Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit ist das Plenum vorbei. | |
„Hier findet so etwas wie eine lokale Fortsetzung der internationalen, | |
kapitalismuskritischen Proteste statt“, sagt Viktor*, der das Plenum | |
moderiert hat. „Was hier passiert, ist sozusagen die Antwort darauf, was | |
wir in unserer lokalen Realität gegen Fremdbestimmung tun können, außer uns | |
zu internationalen Großdemonstrationen nach Frankfurt mobilisieren zu | |
lassen.“ Dass diese Antwort nicht aus Berlin oder Frankfurt kommt, sondern | |
im beschaulichen Mainz entsteht, zeige, dass die Forderung nach | |
basisdemokratischer Selbstverwaltung nun überall gestellt werden könne, | |
findet er. | |
Anders als in größeren Städten gibt es in Mainz keine lange Tradition an | |
Hausbesetzungen und Häuserkämpfen. Dennoch haben den Mainzer | |
„Gegenvorschlag“ viele und sehr unterschiedliche Menschen angenommen. Neben | |
StadträtInnen, Kreisvorständen und ProfessorInnen, die ihre Solidarität mit | |
dem neuen Kulturzentrum bekundet haben, gibt es UnterstützerInnen, die ihre | |
gesamte verfügbare Freizeit in das Projekt investieren. Anna* ist eine von | |
ihnen. Sie arbeitet als Psychologin im Krankenhaus und kommt seit dem | |
ersten Tag der Besetzung direkt nach der Arbeit vorbei, um aufräumen zu | |
helfen, Essen vorbeizubringen und an Veranstaltungen teilzunehmen. „Am | |
Anfang war ich da, obwohl ich mich gefürchtet habe, dass die Polizei kommt. | |
Doch ich spüre, dass wir hier etwas Gutes tun, indem wir dieses vermüllte | |
Haus aufräumen und Raum für Selbstentwicklung bieten“, sagt sie. | |
„Wenn Menschen sich zusammentun, um für andere Menschen etwas Schönes zu | |
schaffen, dann ist es auch egal, ob es formell illegal ist“, findet | |
Jannis*, der seit dem ersten Tag der Besetzung zusammen mit anderen im Haus | |
übernachtet hat. Für sich persönlich hat er eine Abwägung zwischen | |
Illegalität und Legitimität seiner Handlungen getroffen und beschlossen, es | |
sei legitim, morgens in einem besetzten Haus aufzuwachen, um gleich nach | |
dem Frühstück mit Aufräumarbeiten und der Betreuung des Kulturprogramms zu | |
beginnen. Jannis weiß aber auch, dass viele Menschen bei einer solchen | |
Abwägung zu einem anderen Ergebnis kommen würden. | |
## Reden oder räumen | |
Der Oberbürgermeister, Michael Ebling (SPD), etwa äußerte am dritten Tag | |
der Besetzung gegenüber der Mainzer Allgemeinen Zeitung, er habe kein | |
Verständnis, dass man „anderen Menschen Eigentum wegnimmt“. Er missbillige | |
die Besetzung, habe aber Verständnis für einige Anliegen, die die | |
Hausbesetzer umtreiben: etwa bezahlbare Wohnungen oder Räume für kulturelle | |
Initiativen. | |
„Sollte so ein ’Gegenvorschlag‘, wie wir ihn ungefragt unserer | |
Stadtverwaltung in Mainz gemacht haben, woanders entstehen, dann wird es | |
auch dort Leute in hohen Positionen geben, die ihn nicht gut finden“, meint | |
Jannis. Dennoch, oder gerade deswegen, sollte über die Nutzung von | |
Eigentum, das einer gemeinnützigen Infrastruktureinrichtung wie den | |
Stadtwerken gehört, neu verhandelt werden, findet er. „Wenn in den Medien | |
von Demokratiedefizit und Sparzwängen die Rede ist, dann sollten wir auch | |
über zivilen Ungehorsam diskutieren. Wir wollen auch, dass über Normen, die | |
heute als gegeben hingenommen werden, neu verhandelt wird“, erklärt Jannis. | |
Ob der Mainzer „Gegenvorschlag“ in Form eines besetzten soziokulturellen | |
Zentrums wirklich zur Diskussion stehen wird oder ob Fakten geschaffen | |
wurden, die man nur noch „räumen“ kann, wird sich bald zeigen. „Freiwill… | |
gehe ich hier nicht weg“, sagt Jannis und macht es sich auf seinem | |
Schlafsack im „Ruheraum“ bequem. „Viel zu gemütlich hier“, flüstert er | |
grinsend. | |
* Namen geändert | |
14 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Alissa Starodub | |
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