# taz.de -- Forschung zu Bürgerprotesten: Die Entdeckung des Wutbürgers | |
> Spätestens seit dem Streit um Stuttgart 21 wird viel über | |
> Bürgerbeteiligung, Demonstrationen und Proteste geredet. Und was macht | |
> die Wissenschaft? | |
Bild: Warum gehen die Menschen auf die Straße? Die Wissenschaft kann es nur er… | |
BERLIN taz | Er ist einer von diesen Menschen, deren Tätigkeit so eng mit | |
der Person verschmolzen ist, dass sie einem ersten Vornamen gleicht. Aber | |
ein Büro hat der „Bewegungsforscher Dieter Rucht“ nicht mehr, deshalb | |
wartet er im Foyer des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung | |
(WZB), seiner alten Wirkungsstätte. | |
Rucht ist 66 Jahre alt, bis vor einem Jahr war der Professor Ko-Leiter | |
einer Forschungsgruppe zu Zivilgesellschaft am WZB. Die wurde inzwischen | |
beendet, Rucht macht weiter. Er hat einen Film über „Die Protestmacher“ | |
gedreht. Und wenn er gefragt wird, erklärt er und ordnet ein. Sein Thema: | |
die „sozialen Bewegungen“. | |
Die „neuen sozialen Bewegungen“ entstanden nach der 68er-Revolution: die | |
Friedens- und Antiatombewegung in den 80ern, Globalisierungskritik ab Mitte | |
der 90er. Und spätestens seit Menschen wegen Stuttgart 21 auf die Straße | |
gehen, ist Bürgerprotest im Fokus der Öffentlichkeit. Der „Wutbürger“ | |
protestiert allerorten gegen Flugrouten oder Windräder. Und die | |
Wissenschaft? | |
Rucht seufzt. „Es gibt fast keine kontinuierliche Forschung zum Thema“, | |
sagt er. „Das Thema Protest wurde über Jahrzehnte als etwas Exotisches | |
betrachtet. Dabei sind doch in Bürgerinitiativen mehr Menschen aktiv als in | |
Parteien.“ Und es gebe doch eine Riesennachfrage von NGOs oder von | |
Verkehrsplanern, die wissen wollen: Was bedeutet der Protest für uns? | |
Aber an den Universitäten beschäftigen sich nur einige Einzelkämpfer mit | |
dem Thema – meistens mit den Bereichen, denen sie persönlich nahe stehen. | |
Soziologie und Politikwissenschaft haben ihre Fächer ziemlich festgezurrt. | |
Einen Lehrstuhl für soziale Bewegungen gibt es in Deutschland nicht. Und | |
das heißt auch: Wer sich auf diesen Forschungszweig spezialisiert, hat kaum | |
Perspektiven an der Universität. | |
## Bewegungsforscher müssen umlernen | |
So wie der Soziologe Simon Teune, 35. Er hat ein Büro im WZB, über seinem | |
Schreibtisch hängt ein Protestaufkleber gegen Stuttgart 21. Er schreibt | |
gerade seine Doktorarbeit, über die globalisierungskritischen Proteste | |
gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Warum Menschen auf die Straße gehen, | |
das interessiert ihn schon lange, schon als Jugendlicher war er auf | |
Demonstrationen, hatte dabei aber „schon immer eine etwas distanzierte | |
Beobachterhaltung“. | |
Er landete in Seminaren von Rucht und blieb dem Thema treu. Heute ist er | |
Sprecher des Arbeitskreises soziale Bewegungen der Deutschen Vereinigung | |
für Politische Wissenschaft. Ein Netzwerk, in dem sich Gleichgesinnte | |
zumindest austauschen können. In Kooperation mit dem Arbeitskreis wird auch | |
das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen herausgegeben. | |
Wer als Protestforscher aber eine wissenschaftliche Karriere machen will, | |
muss sich umorientieren. Nach der Dissertation noch ein anderes Feld | |
beackern, um Aussicht auf eine Professur zu haben. Simon Teune hat darauf | |
keine Lust: „Wenn ich in dem Feld nichts finde, dann werde ich mich wohl | |
aus der Uni verabschieden.“ Nur langsam wird die Bewegungsforschung | |
institutionell verankert. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung | |
hat seit einer Weile nicht nur Parteien und Wahlen im Blick, sondern auch | |
außerparlamentarischen Protest. | |
## Institut in Gründung | |
Einen Sinneswandel gibt es auch beim Institut für soziale Bewegungen (ISB) | |
der Ruhr-Universität Bochum. Bislang beschäftigen sich dort vor allem | |
Historiker mit der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert oder den Bergleuten | |
im Ruhrgebiet. Jetzt will das ISB verstärkt den Blick auf das richten, was | |
heute in der Welt passiert. | |
Eine neue Juniorprofessur für den Bereich „Globalisierungskonflikte und | |
neue soziale Bewegungen“ soll noch im kommenden Wintersemester besetzt | |
werden, zunächst für fünf Jahre. Man strebe aber durchaus eine | |
längerfristige Perspektive an, sagt ISB-Geschäftsführer Hans-Christoph | |
Seidel. „Wir wollen die Bewegungsforschung stärken.“ | |
Genau das ist auch das Ziel von Dieter Rucht und einigen Mitstreitern. Eine | |
einzige Professur reicht ihnen nicht, ein ganzes Institut soll es sein, das | |
eng mit den Berliner Universitäten kooperiert. Ein Trägerverein wurde schon | |
gegründet, eine Geschäftsführerin ist schon an Bord. Momentan laufen | |
Verhandlungen. „Die Konjunktur ist ganz gut für uns“, sagt Simon Teune. | |
12 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Erb | |
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Flugrouten | |
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