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# taz.de -- Debatte um „Bundesstaat Europa“: Föderalisten mit halbem Herzen
> Alle reden über die Krise des Euro und ihre Überwindung. Aber wie soll
> Europa sein? Ein Ort für angstfreies Anderssein und versöhnte
> Verschiedenheit.
Bild: Ein gemeinsames Parlament gibt es schon, warum also keinen Bundesstaat?
Die sogenannte Eurokrise behelligt die politisch interessierten BürgerInnen
dieses Landes abends in den Talkshows und morgens in den Schlagzeilen. Am
4. 8. wurde im Feuilleton der FAZ ein von den Philosophen Jürgen Habermas
und Julian Nida-Rümelin sowie dem Wirtschaftsweisen Peter Bofinger
verfasster Vorschlag zur Überwindung der Krise publiziert; ein Vorschlag,
der auf Bitte des SPD Vorsitzenden Gabriel verfasst wurde.
Der Therapie geht die Diagnose voraus: Bei der gegenwärtigen Krise, so die
intellektuelle Troika, handele es sich doch weder um eine Krise der
Währung, des Euro, noch um eine Schulden-, sondern schlicht um eine
„Refinanzierungskrise“. Zwar mag sich der ökonomisch ungebildete Leser
fragen, worin genau der Unterschied zwischen einer Schulden- und einer
Refinanzierungskrise besteht, indes: die „Refinanzierungskrise“ erweist
sich als „systemisch“ verursacht, beruhe sie doch auf dem Missverhältnis
von währungspolitischer und allgemein politischer Integration der Eurozone.
Die drei Intellektuellen bekräftigen, dass „nur durch eine
gemeinschaftliche Haftung für Staatsanleihen des Euroraums (…) das für die
derzeitige Instabilität der Finanzmärkte konstitutive individuelle
Insolvenzrisiko eines Landes beseitigt oder zumindest begrenzt werden
kann“.
## Drohung Fassadendemokratie
Bofinger und Mitstreiter wollen angesichts dieses vornehm verklausulierten
Vorschlags, die von Bundesregierung und Boulevardpresse verketzerten
„Eurobonds“ einzuführen, nicht als naiv erscheinen und räumen ein, dass
„damit Fehlanreize gesetzt werden können“.
Gleichwohl: wenn es darum geht, den parlamentarisch immer weniger
kontrollierten Regierungen in ihrer schizophrenen Doppelstrategie von
endlosen Rettungsschirmen hier und laut verkündeten Austerityappellen dort
Grenzen zu setzen, führe nichts an einer transnationalen, demokratischen
Vertiefung der EU vorbei.
„Eurokrise“ und Entdemokratisierung hängen demnach nicht nur eng
miteinander zusammen, sondern sind zwei Seiten einer Medaille, werde doch
durch die Krise die schleichende „Umwandlung der sozialstaatlichen
Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie“ vorangetrieben.
In dieser Situation kann nur noch eine Besinnung auf das „Politische“, also
auf die Chancen entschlossenen politischen Handelns, das Neues wagt,
helfen.
Daher taucht auch im Text dieser im besten Sinne links-konservativen
Autoren ein Begriff auf, den man gemeinhin dem rechten oder leninistischen
Spektrum zurechnen würde: Dem unter den steuerzahlenden Bürger*innen der
Bundesrepublik verbreiteten Gefühl von Wut und Ohnmacht solle „eine auf
Selbstermächtigung (!) abzielende Politik entgegentreten“.
## „Der Bundesregierung fehlt der Mut“
So wird die schwarz-gelbe Bundesregierung nicht etwa einer falschen
Analyse, sondern der Feigheit geziehen: „Der Bundesregierung fehlt der Mut,
einen unhaltbar gewordenen Status quo zu überwinden.“
Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin schlagen daher einer künftigen, von
Sozialdemokraten geführten Bundesregierung vor, in der EU die Initiative
zur Einberufung eines europäischen Verfassungskonvents zu ergreifen, über
dessen Ergebnisse gleichzeitig mit einem womöglich vom
Bundesverfassungsgericht angeordneten Verfassungsplebiszit abgestimmt
werden könnte. Da jedoch demokratische Debatten ihre Zeit benötigen, sollte
derlei nicht vor Ablauf der nächsten Wahlperiode, also 2018 in Gang gesetzt
werden.
Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wie sehr sich die besten
Intuitionen der Autoren an ihrer reformistischen Vorsicht brechen. Gibt
sich doch die Troika davon überzeugt, dass ein europäischer Bundesstaat das
falsche Modell sei und die Solidaritätsbereitschaft der europäischen Bürger
überfordere.
Gesucht sind dennoch „klare, verfassungspolitische Vorstellungen von einer
supranationalen Demokratie, die ein gemeinsames Regieren erlauben, ohne die
Gestalt eines Bundesstaates anzunehmen“. Man muss sich bei dieser
Formulierung fragen, ob ihr nicht ebenjener Vorwurf zu machen ist, den die
Troika der Merkel-Regierung macht: den Vorwurf mangelnden Mutes!
## USA und Schweiz zeigen: Das Programm kann Wirklichkeit werden
Denn was soll ein politisches Gebilde, das zwar aus Teileinheiten, aber vor
allem aus einem gemeinsamen Parlament und einer gemeinsamen Regierung
besteht, anderes sein als ein „Bundesstaat“? Ein Blick auf die USA oder die
Schweiz zeigt, dass und wie das vorgeschlagene Programm Wirklichkeit
geworden ist. Am erklärten Verzicht auf den Begriff eines europäischen
„Bundesstaates“ wird offenbar, dass dieser Vorschlag im Banne der Angst vor
den eigenen Bürger*innen steht, denen nationalistisches Ressentiment
unterstellt wird.
Womöglich zu Recht, indes: das Sigmar Gabriel zugedachte Papier soll ja
kein Wahlaufruf, sondern eine politische Analyse sein, deshalb: halten die
Autoren die BürgerInnen wirklich für so naiv, zwar eine „supranationale
Demokratie“ mit der Folge erheblicher Souveränitätsübertragungen
hinzunehmen, einen europäischen „Bundesstaat“ jedoch ängstlich abzulehnen?
Ist nicht eher anzunehmen, dass das Wahlvolk den Braten riechen und umso
empörter dagegen stimmen wird? Will man wirklich riskieren, von
Rechtspopulisten einer Mogelpackung überführt zu werden? Ein Freund
Nietzsches, der Theologe Franz Overbeck, schrieb einmal richtig, dass es
Situationen gibt, in denen nur noch Verwegenheit hilft. Dagegen durchzieht
eine eigentümliche Diskrepanz Inhalt und Stil des Papiers: Sosehr die
Autoren die Politik zur „Selbstermächtigung“ ermutigen, so sehr schrecken
sie selbst davor zurück, ihr zu entsprechen.
Gleichwohl: Kein Zufall ist es, dass die drei an die amerikanische
Revolution und ihren Schlachtruf: „No taxation without representation“
erinnern. Kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution diskutierten in
den zehn Jahren zuvor unabhängig gewordenen USA die Politiker und
Schriftsteller Alexander Hamilton, James Madison und John Jay über die
künftige Verfassung ihres Staates.
## Der 14. Artikel
In der von ihnen herausgegebenen Zeitung The Federalist setzten sie sich
sorgfältig abwägend in mehr als 80 Artikeln für eine föderale
Gesamtstaatlichkeit der USA ein – stets in Auseinandersetzung mit
Politikern, die für einen nur losen Verbund der Neuengland-Staaten
stritten. Im 14. Artikel der „Federalist Papers“ erinnert James Hamilton
daran, „dass dem Bund nicht die gesamte gesetzgeberische Gewalt übertragen
wird.
Seine Zuständigkeit beschränkt sich auf bestimmte, einzeln aufgezählte
Aufgaben, die alle Mitgliedstaaten der Republik betreffen und durch
getrennte Vorkehrungen der einzelnen nicht erbracht werden können. Die
untergeordneten Regierungen und ihre Verwaltungen können ihre Fürsorge all
den anderen Aufgaben angedeihen lassen, die jeweils für sich erfüllt werden
können. Sie werden die ihnen zustehende Machtbefugnis und
Handlungsmöglichkeiten behalten.“
So geschrieben im November 1787, vor 225 Jahren. Kurz darauf, 1788, wurden
die USA mit der Ratifizierung einer föderalistischen Bundesverfassung durch
die Einzelstaaten förmlich gegründet. Gewiss verbieten sich alle
oberflächlichen Parallelen: Die USA sollten 1788 ihren mörderischen
Bürgerkrieg noch vor sich haben, Europa hat ihn in den beiden Abschnitten
1914–1918 und 1939–1945 hinter sich.
Als Argument gegen einen europäischen Bundesstaat wird vor allem die
Vielfalt seiner Sprachen, Mentalitäten und Kulturen ins Feld geführt.
Indes: was genau spricht eigentlich dagegen, Europa von Portugal bis Polen
als jenen politisch strukturierten Raum, das heißt als jenen Bundesstaat zu
propagieren, der in der globalisierten Welt für das steht, was
innergesellschaftlich mehr und mehr akzeptiert wird: für angstfreies
Anderssein und versöhnte Verschiedenheit?
13 Aug 2012
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Micha Brumlik
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