# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Aus gegebenem Anlass | |
> Am Al-Quds-Tag sammeln sich Antizionisten und Antisemiten – mutmaßlich | |
> auch jüdische. Micha Brumlik begibt sich auf der Demo in Berlin auf | |
> Spurensuche. | |
Bild: Ikonen der Freiheitshelden auf dem Berliner Al-Quds-Tag. | |
Seit 1996 wird der Al-Quds-Tag, an dem Ajatollah Chomeini 1979 zum Marsch | |
auf Jerusalem aufrief, in Berlin von islamistischen Gruppen begangen. | |
Al-Quds-Tag 2012 in Berlin, kurz vor 12 Uhr: An der Kreuzung | |
Kurfürstendamm/Adenauerplatz haben sich Gegendemonstranten versammelt. Die | |
Slogans stimmen, nur das Musikprogramm nicht. Aus den Lautsprechern quillt | |
die ergreifende Melodie des Liedes „Jeruschalajim schel sahaw“, „Jerusalem | |
von Gold“. | |
Ein Blick auf den hebräischen Text beweist freilich, wie verlogen und | |
schnulzig das Lied ist. Man mag am jordanischen Ostjerusalem kritisieren, | |
dass fromme Juden nicht an der Klagemauer beten durften, der Text dieser | |
Strophe lügt gleichwohl: „Die Brunnen sind leer von Wasser / Der Marktplatz | |
wie ausgestorben / Der Tempelberg dunkel und verlassen …“ | |
Ostjerusalem war vor dem Junikrieg alles andere als eine Gespensterstadt: | |
kein Brunnen, kein Markt und kein Tempelberg haben auf israelische | |
Fallschirmjäger gewartet! Schließlich fällt mein Blick auf den | |
Adenauerplatz, wo sich neben der Statue des ersten Bundeskanzlers zwei | |
auffällige Silhouetten abzeichnen – breitkrempige Pelzhüte, schwarze | |
Seidenkaftane, weiße Kniestrümpfe. Neben beiden ein Rollstuhl mit | |
Schrifttafeln: „Zionismus ist Rassismus“, „Judentum ist nicht Zionismus �… | |
Zionismus ist nicht Judentum“. | |
Auf Nachfrage geben sich die beiden als Satmarer Chassidim zu erkennen: | |
zwei der etwa einhundertundfünfzigtausend, vornehmlich in Williamsburg, New | |
York, lebenden Anhänger des verstorbenen Raw „Yoelisch“ Teitelbaum, der | |
lehrte, dass der Holocaust Gottes Strafe für Zionismus und Assimilation | |
gewesen sei. | |
## Die Suche nach jüdischen Antisemiten | |
Ich suche einen theologisch-politischen Disput und frage, was ihr Vorschlag | |
für eine politische Lösung des Nahostkonflikts sei. Die Antwort: | |
„Moschiach“! Eine Erinnerung an Walter Benjamins letzte | |
geschichtsphilosophische These drängt sich auf: „Den Juden wurde die | |
Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr | |
war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ | |
Ich versuche es noch einmal: Was sagen die Satmarer zum Toraabschnitt 5. | |
Mose, 7–11, der den Kindern Israels das Land Kanaan verheißt, zu jenem | |
Abschnitt, mit dem die jüdischen Siedler im Westjordanland ihr Handeln | |
begründen. Die Antwort kam schnell: Sie zitierten den Babylonischen Talmud, | |
Traktat „Ketubboth“ (Heiratsverträge) 111 a, wo ein Rabbi Jehuda sagt: „… | |
aus Babylonien nach dem Israellande hinaufzieht, übertritt ein Gebot.“ | |
Eine Stunde später werden beide neben hasserfüllten Hamas- und | |
Chomeini-Anhängern an der Spitze der Al-Quds-Demonstration über den | |
Kurfürstendamm ziehen. Jüdische Antisemiten? Zweihunderttausend jüdische | |
Antisemiten, mehr als Juden in Deutschland leben? Wer hat von welcher | |
Position aus das Recht, dieses Verdikt zu fällen? Was ist überhaupt ein | |
jüdischer Antisemit? | |
Ein klarer Fall war Otto Weininger (1880–1903), dem der 1934 in Marienbad | |
von den Nazis ermordete Kulturphilosoph Theodor Lessing in seinem 1930 | |
erschienenen Buch über den „Jüdischen Selbsthass“ eine präzise Analyse | |
gewidmet hat. Weininger, ein brillanter Philosoph, hatte seine jüdische | |
Herkunft, die Weichlichkeit und Weiblichkeit des Judentums in seinem Buch | |
„Geschlecht und Charakter“ (1903) zugunsten eines männlichen | |
Protestantismus zurückgewiesen. Zum Protestantismus konvertiert, lehnte er | |
sein Judentum so sehr ab, dass er sich in Beethovens Sterbehaus im Alter | |
von dreiundzwanzig Jahren erschoss. | |
## Selbstgerechtigkeit der nichtjüdischen Aktivisten | |
Auf der Suche nach jüdischen Antisemiten könnte man die Debatte über den | |
jungen Marx fortführen, aber vielleicht ist der ehemalige israelische | |
Premier Schamir interessanter?! Schamir war einer der Führer der | |
zionistisch-nationalbolschewistischen Gruppe Lehi, die 1941 als | |
antiimperialistische Gruppe Kontakte zum nationalsozialistischen | |
Deutschland suchten. Geplant war ein Tausch: Freigabe europäischer Juden | |
für eine Unterstützung der Achsenmächte gegen Großbritannien. | |
Die Satmarer, Otto Weininger, Jitzhak Schamir … Die theoretisch | |
unaufgeklärte Selbstgerechtigkeit, mit der nichtjüdische Aktivisten | |
Jüdinnen und Juden, die eine andere Meinung als die Generallinie der | |
israelischen Regierung vertreten, als „Antisemiten“ denunzieren, ist durch | |
nichts legitimiert. | |
Es war der große Antisemitismusforscher Leon Poliakov, der angesichts | |
arabischer Propaganda zu Recht davon gesprochen hat, dass der Staat Israel | |
zum „kollektiven Juden“ gemacht wird. Die Verteidiger israelischer | |
Interessen sollten nicht den spiegelbildlichen Fehler begehen. | |
3 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
## TAGS | |
Micha Brumlik | |
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