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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Die Philosophin im Brunnen
> Mit Judith Butler erhält zum ersten Mal eine Frau den renommierten
> Theodor-W.-Adorno-Preis. Einzelne, dem Staat Israel verbundene
> Publizisten und Gruppen monieren das.
Wie kein anderer hat der Philosoph Theodor W. Adorno im restaurativen
Deutschland die Lage des Denkens nach Auschwitz reflektiert; nur wenige
taten es ihm gleich, wenn es galt, sich als öffentlicher Intellektueller
mit dem Antisemitismus auseinanderzusetzen. Die Motive seines Denkens –
eine Phänomenologie des beschädigten Lebens, eine aller Totalität gegenüber
kritische, negative Dialektik sowie ein jeder Form von Herrschaft
entgegengesetzter Begriff des „Nichtidentischen“ – waren in Theorie und
Praxis wirkungsmächtig: So gaben sie anfänglich den studentischen Protesten
der späten 1960er Jahre ihre Richtung und brachten die
nachnationalsozialistisch erstarrten Verhältnisse der alten Bundesrepublik
zum Tanzen.
Wie keine andere auch hat die Philosophin Judith Butler in der atlantischen
Welt die Lage des Denkens im Zeitalter des Neoliberalismus reflektiert; nur
wenige tun es ihr gleich, wenn es gilt, sich als öffentliche Intellektuelle
mit Sexismus, Homophobie und Rassismus auseinanderzusetzen. Die Motive
ihres Denkens – Subversion herrschender Diskurse, Dekonstruktion binärer
Geschlechtsrollen, Kritik aller Formen performativer Macht – entsprechen in
vieler Hinsicht dem Denken Adornos, weshalb sie 2002 eingeladen war, an der
Frankfurter Universität die „Adorno-Vorlesungen“ zum Thema „Kritik der
ethischen Gewalt“ zu halten. Zehn Jahre später hat ihr eine Jury der Stadt
Frankfurt soeben den renommierten, alle drei Jahre verliehenen
Theodor-W.-Adorno-Preis zugesprochen, den vor ihr Norbert Elias, Jürgen
Habermas, Jacques Derrida oder Alexander Kluge erhalten haben.
Nun, da zum ersten Mal eine Frau den Preis erhalten soll, regen sich
Protest und Kritik: Einzelne, dem Staat Israel verbundene Publizisten und
Gruppen monieren, dass ausgerechnet Butler einen Preis erhält, der auf den
Namen eines der bedeutendsten Kritiker des Antisemitismus ausgelobt ist.
Sie heben hervor, was Butler selbst nicht bestreitet: 2006 in einem
Teach-in an der University of California, Berkeley, gesagt zu haben: „Yes,
understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive,
that are on the left, that are part of a global left is extremely
important.“ Dies – so Butler damals weiter – müsse jedoch nicht zu einem
Verzicht auf Kritik an diesen Gruppierungen und ihrer Politik der Gewalt
führen. Gleichwohl: Die dem klerikalfaschistischen Iran nahestehende
Hisbollah und die auf der Basis eines eindeutig antisemitischen Programms
operierende Hamas (Teile ihrer Charta sind regelrecht aus den „Protokollen
der Weisen von Zion“ abgeschrieben) als Teile einer globalen Linken zu
bezeichnen, ist entweder Unsinn oder eine ungewollt reaktionäre Kritik an
allem, was „progressiv“ ist.
Indes: Vier Jahre später, in einem ausführlichen Gespräch mit der Jungle
World vom 29. 7. 2010, hat sich Butler derlei Vorwürfen gestellt. Sie gab
dort zu Protokoll, dass Hamas und Hisbollah zwar „deskriptiv“ der Linken
zuzurechnen seien, sie selbst als gewaltlose Aktivistin jedoch diese
Gruppen nie unterstützt habe. Butler, die den deutschen Idealismus in
Heidelberg studiert hat, dürfte der Begriff der „schönen Seele“, als die
sie hier auftritt, wohl bekannt sein.
Mehr noch: Auch zeitgenössische Philosophinnen verhalten sich bisweilen so,
wie einer der ersten Philosophen, Thales von Milet, der – dem Universum
nachsinnend und den Himmel anstarrend – nächtens in einen Brunnen fiel.
Eine thrakische Magd, Zeugin dieses Ereignisses, bekam darauf einen
Lachanfall und hielt dem Denker vor, zwar den Himmel, aber nicht, was zu
seinen Füßen geschehe, zu sehen. In dieser Tradition des Thales, nicht der
Subalternen, der Magd, steht in diesem Fall auch Butler. Hätte die
Philosophin auch nur einen Blick in die Charta der Hamas geworfen oder sich
dem Filmprogramm der Hisbollah-TV-Station „Al-Manar“, die seit 2009 in
Deutschland ob ihres Antisemitismus und ihrer filmischen Ritualmordlegenden
verboten ist – gewidmet, sie hätte sich nicht so gewunden äußern müssen:
„Wenn Hamas und Hisbollah antisemitische Positionen vertreten, dann sind
sie unbedingt abzulehnen.“
So bleibt nur Nachsicht: Auch Theodor W. Adorno, nach dem der Preis, der
Butler allemal gebührt, benannt ist, äußerte sich nicht immer auf der Höhe
seines Niveaus, was an seinen Auslassungen zum Jazz sattsam demonstriert
worden ist. Wer aber Judith Butler, ihr Denken zu Israel und zum Judentum
dort kennen lernen will, wo es wirklich stark ist, sei auf ihren Aufsatz
„Is Judaism Zionism?“ verwiesen, der 2011 in einem Band über „The Power …
Religion in the Public Sphere“ publiziert wurde. Dort plädiert sie mit
Blick auf die ungebrochene israelische Siedlungspolitik mit Martin Buber
und Hannah Arendt realistisch für ein neues Nachdenken über einen föderalen
oder binationalen Staat von jüdischen Israelis und Palästinensern.
4 Jun 2012
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Judith Butler
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