# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Sehnsuchtsort Moderne | |
> Wanderin zwischen den Welten: Jutta Schwerin erinnert sich an ein leben | |
> zwischen Emigration, Bundestag und Utopie. Die findet sie außerhalb | |
> Deutschlands. | |
Bild: Ort der Zuflucht für Jutta Schwerin: Manhattan. | |
Es will heute kaum noch in den Kopf, dass es ausgerechnet das provinzielle | |
Ulm gewesen sein soll, in dem sich mit der Hochschule für Gestaltung und | |
der dortigen Volkshochschule ein Kern einer Neuen Linken, einer | |
bundesrepublikanischen Moderne kristallisiert hat, die Pazifismus, | |
Antifaschismus sowie eine neue Gestaltung der Lebenswelt wollte. | |
Die Geschichte der Gründerin der Ulmer VHS, Inge Scholls, und ihres Mannes, | |
des Gestalters Otl Aicher, ist schon zu oft erzählt worden, um hier noch | |
einmal wiederholt zu werden. Gleichwohl: Die Ulmer Hochschule für | |
Gestaltung steht in der Tradition des die Weimarer Moderne prägenden | |
Bauhauses in Dessau. | |
Jetzt erst zeigt sich, dass und wie die Weimarer Moderne das Entstehen der | |
Neuen Linken in der alten Bundesrepublik bis hin zur Gründung der Grünen | |
beeinflusst hat. Die Lebensgeschichte von Jutta Schwerin, einer ehemaligen | |
grünen Bundestagsabgeordneten, belegt das, aber nicht nur das, auf | |
eindrucksvolle Weise: Schwerin fiel im deutschen Bundestag nicht nur durch | |
ihr Outing als Lesbe, als Mutter mehrerer Kinder auf, sondern vor allem | |
dadurch, dass sie 1988 die Ansprache des CDU-Bundestagspräsidenten Philipp | |
Jenninger zur Pogromnacht im November im Bundestag mit empörten | |
Zwischenrufen unterbrach. | |
Schwerins kürzlich erschienene Autobiografie „Ricardas Tochter. Leben | |
zwischen Deutschland und Israel“ verweist auf ein Milieu, das sich heute | |
allenfalls in den Lebensgeschichten betagter DDR-Bürger jüdischer Herkunft | |
spiegelt: das Milieu assimilierter deutscher Juden, die einen Rest der | |
universalistischen Gehalte ihrer Religion im Kommunismus glaubten bewahren | |
zu können. | |
Jutta Schwerin wurde 1941 als Tochter eines atheistischen, parteilosen | |
Mannes jüdischer Herkunft und einer atheistischen, nichtjüdischen Frau in | |
Jerusalem geboren und kam 1961 ins damalige Westdeutschland, um in Ulm an | |
der Hochschule für Gestaltung zu studieren. Jutta Schwerin kam in jenes | |
Land, aus dem ihre Eltern stammten und das beide als junges, | |
unverheiratetes Paar – sie hatten sich am Bauhaus in Dessau kennengelernt – | |
mangels Alternative eher unwillig über Prag Richtung Palästina verließen. | |
Die Lektüre dieser in nüchternem, beinahe bauhausartig gehaltenem Stil | |
verfassten Erinnerungen führt die LeserInnen in das eigentümliche Milieu | |
deutscher Juden, der sogenannten Jeckes im Jerusalem der Mandatszeit und | |
später ein; also unter Leute, die nie Hebräisch sprachen, aber ein umso | |
intensiveres gesellschaftliches Leben in Jerusalemer Kaffeehäusern führten. | |
Schwerins Lebensgeschichte ist aber vor allem die Erzählung einer „Wanderin | |
zwischen den Welten“, die beispielhafte Geschichte einer Suche nach | |
Identität, nach einem geklärten Selbstverhältnis im Moralischen, | |
Politischen, und Sexuellen; die Geschichte eines immerwährenden, | |
unabgeschlossenen und wohl unabschließbaren Versuchs, die widerstrebenden | |
Anteile und Wünsche ihrer Persönlichkeit auf einen Nenner zu bringen. | |
Damit wird Jutta Schwerins Lebensgeschichte, die von einer | |
linkszionistischen Jugendbewegung, einem längeren Aufenthalt im Kibbuz über | |
eine Wehrdienstverweigerung in Israel bis zum frühen SDS und den Grünen | |
reicht, zu einem Spiegel, nein, genauer einem Negativbild der | |
nichtjüdischen westdeutschen Linken. Wandte sich diese von ihren oftmals | |
nazistischen Eltern ab und den jüdischen Opfern zu, um später im Protest | |
gegen den Staat Israel und aus Solidarität mit den Palästinensern | |
judenfeindliche Motive ihrer Eltern unbewusst zu übernehmen, so sehnte sich | |
Jutta Schwerin nach jenem „progressiven“ Deutschland, das ihre Eltern am | |
Bauhaus in Dessau kennengelernt hatten und kam doch nur in die real | |
existierende Bundesrepublik. | |
Als die Abgeordneten des deutschen Bundestags anlässlich des Falls der | |
Mauer, im November 1989, die Nationalhymne anstimmten, konnte sie, die ja | |
niemand gezwungen hatte, nach Deutschland zu gehen, nicht anders, als den | |
Plenarsaal zu verlassen. | |
Schwerins Erinnerungen enden mit einer Utopie, die man auch bei anderen | |
ehemaligen Linken vorfindet, in Manhattan, New York. Der Regen in New York, | |
wo sie mit ihrer Freundin lebt, erinnert Schwerin an ihre Mutter. Manhattan | |
ist ein Synonym dafür, angstfrei anders sein zu können, in versöhnter | |
Verschiedenheit zu leben, so der Schlussakkord dieser bemerkenswerten | |
Memoiren. Ein Blick auf die Immobilienpreise New Yorks und den bitteren | |
Wahlkampf in den USA beweist freilich, dass auch diese Utopie – wie alle | |
Utopien – Fragment ist. | |
6 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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