# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Adorno, Lenin und das Schnabeltier | |
> Derzeit gibt es eine Reihe von Ansätzen, die Tradition der Kritischen | |
> Theorie wieder politisch aufzunehmen. Über den „Negativen Nachmittag“ und | |
> andere Versuche. | |
Nur zu gut nachvollziehbar ist es, dass Menschen in Zeiten | |
unüberschaubarer, einander überlagernder und durchdringender sozialer, | |
politischer und ökonomischer Krisen eine Orientierung im Denken, einen | |
archimedischen Punkt suchen, von dem aus das Geschehen verständlich und | |
sogar veränderbar wird. | |
In einer Tradition des 19. Jahrhunderts hat man sich daran gewöhnt, | |
derartige Denkanstrengungen als „radikal“ zu bezeichnen, weil sie das Ganze | |
eben von der einen, der einzigen Wurzel erfassen wollen. | |
Bisweilen verbirgt sich freilich hinter dem Wunsch, „radikal“ zu denken, | |
schlicht die Sehnsucht nach einer unbedingten, vorbehaltlosen, am besten | |
völlig negierenden Haltung dem Ganzen gegenüber. Davon zeugt etwa das | |
„Unsichtbare Komitee“ mit seinem kulturreaktionären Ekel vor der | |
Massengesellschaft und dem revoluzzernden Schwadronieren vom „Kommenden | |
Aufstand“. | |
Schwerer zu beurteilen sind neuere Versuche, die Tradition der Kritischen | |
Theorie politisch aufzunehmen. So bietet etwa die Hamburger | |
Studienbibliothek im Rahmen eines „Negativen Nachmittags“ ein Programm an, | |
innerhalb dessen Adornos Verhältnis zu Lenin erörtert werden soll. Wem dies | |
absurd erscheint, der muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Adorno | |
gelegentlich positiv zu Lenin geäußert hat. | |
In einem Brief an Horkheimer aus dem März 1936 etwa moniert er an Erich | |
Fromm, dass es sich dieser mit dem Begriff der „Autorität“ zu leicht mache: | |
mit einem Begriff „ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die | |
Diktatur“ zu denken sei. Mehr noch: In aphoristischen Notizen aus dem | |
Februar 1935 meint Adorno, dass man – anstatt Arbeiter der Verteilung von | |
Flugzetteln zu opfern – „lieber Lenins Verhalten zu Kerenskis Revolution | |
studieren“ möge: „seine Fähigkeit“, so Adorno zustimmend, „den | |
gesellschaftlichen Hebelpunkt zu entdecken und zu nutzen: mit minimaler | |
Kraft die unermessliche Last des Staates zu heben“. | |
## Nachsicht angebracht? | |
Ein Fall für Nachsicht? Adorno war damals, 1935, zweiunddreißig Jahre alt, | |
besuchte Eltern und Tante in Frankfurt, um dann im Schwarzwald Urlaub zu | |
machen. Ein Aufsatz zum Jazz aus dem Jahr 1933, in dem vom musikalischen | |
Einfluss der „Negerrasse“ die Rede war, ging einer 1934 in der Zeitschrift | |
Die Musik veröffentlichen Rezension vorher, in der Adorno eine Vertonung | |
von Gedichten des Reichsjugendführers von Schirach lobte, die – in seinen | |
Worten – dem von Joseph Goebbels proklamierten „romantischen Realismus“ | |
entspreche. | |
Was all das über den systematischen Gehalt seines Werks sagt? Nichts! | |
Ebenso wenig wie die mit gutem Grund nicht publizierten Bemerkungen zu | |
Lenin. Er habe derlei auch noch in den 1950er Jahren zu Horkheimer | |
geäußert? Gut möglich, indes: Da sich Adorno in den 1960er Jahren | |
lobhudelnd über Theodor Heuss ausgelassen hat, wird man auch dem kein allzu | |
großes Gewicht zumessen können. | |
Aber wie dem auch sei, Anregenderes kommt aus den USA. Auf der Homepage von | |
Chris Cutrone, einem in Chicago wirkenden Philosophen Jahrgang 1970, steht | |
fett gedruckt und unübersehbar „The Last Marxist“ und darunter – wie das | |
Amen in der Kirche – etwas kleiner: „Chris Cutrone is the last marxist!“ | |
Wer meint, es hier mit unheilbarem Größenwahn zu tun zu haben, wird schnell | |
eines Besseren belehrt: Cutrone, Gründer und Spiritus Rector einer sich | |
weltweit organisierenden posttrotzkistischen, neoneomarxistischen Gruppe, | |
bemüht ein heilsgeschichtliches Motiv. | |
Geht es ihm doch darum, sich – wie Johannes der Täufer, der sich als | |
Vorläufer des Messias verstand – als letzter Vertreter des Alten und somit | |
Wegbereiter des Neuen zu präsentieren: als letzter Marxist, der den | |
Übergang ins gelobte Land eines von den Gebrechen der Vergangenheit | |
geheilten „Marxianismus“ anführt. | |
Cutrone ist geistiger Mentor der weltweit agierenden Gruppe „Schnabeltier“, | |
auf Englisch „Platypus“, die 2006 gegründet wurde und in ihrem „statement | |
of purpose“ erklärt: „We agree with the young Marx in ’the ruthless | |
criticism of everything existing‘ […]. Our present does not deserve | |
affirmation or even respect, for we recognize it only for what came to be | |
when the left was destroyed and liquidated itself.“ | |
„Platypus“ halten übrigens eine genauestens austarierte Leseliste von Marx | |
über Lukács bis zu Trotzki vor, die curricular – die Textstücke sollen | |
systematisch aufeinander aufbauen – organisiert sind. | |
Aber was hat all das mit jenem eigentümlichen, so gar nicht in die | |
Evolution passenden, eierlegenden Säugetier zu tun? Nun, Friedrich Engels | |
sah so ein Tier im Londoner Zoo und kam zu dem Schluss, dass die Vernunft | |
der Natur allen Darwin’schen Glaubenssätzen zum Trotz keineswegs mit den | |
jeweiligen, historisch verfestigten Standards menschlicher Vernunft | |
übereinstimmen muss. Kritische Theorie als beharrlicher, gleichwohl | |
hoffnungsvoller Irrläufer der kulturellen Evolution? | |
3 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |