# taz.de -- Beschneidung mit 18: Im Bett mit und ohne | |
> In der Vorhautdebatte kam eine Frage zu kurz: Ändert sich der Sex, wenn | |
> sie weg ist? Leider ja. Ein Erfahrungsbericht. | |
Bild: Sanft und langsam? Geschichte, sagt unser Autor. Seit er keine Vorhaut me… | |
Eigentlich hatte ich geschworen, meinen Mund zu halten. Aber jedes Mal, | |
wenn wieder über die Beschneidung von Jungen debattiert wird, werde ich | |
Zeuge eines bizarren Spektakels. Auf der einen Seite gibt es die Männer, | |
die als Kind beschnitten wurden und nie etwas anderes kannten. Auf der | |
anderen Seite Männer, die noch ihre Vorhaut haben und auch nichts anderes | |
kennen. Wenn sie diskutieren, ist es schon schräg. | |
Noch absurder wird es, wenn sich auch Frauen einschalten. Dann kommt der | |
Moment, an dem ich sagen möchte, dass ich bei einem guten Dutzend Geburten | |
geholfen habe, und sie alle nicht wehtaten – mir nicht. | |
Wenn wir indes die religiöse und politische Rhetorik beiseite lassen, | |
bleibt die Beschneidung von Jungen so schlicht wie klar eine sexuelle | |
Verstümmelung. Ich weiß das, weil ich selbst als Erwachsener beschnitten | |
worden bin. Ich hatte ein Sexualleben vor meiner Beschneidung und habe eins | |
danach – ich kann vergleichen. | |
Meine Geschichte beginnt 1974 in einer Nacht in Oxford. Miriam und ich | |
liebten uns zum ersten Mal, dann wollte sie reden. Nicht den üblichen Small | |
Talk – so ein Mädchen ist sie nie gewesen –, sondern über Religion. | |
## „Bist du ein Mitglied des Stammes?“ | |
Sie hatte gerade eine ihrer Roth-Händle-Zigaretten gedreht, als sie mich | |
ansah und die Gegend unterhalb meines Nabels fixierte. Jetzt, dreißig Jahre | |
später, kann ich ihre Frage immer noch hören. Sie lautete: „Wie ist es? | |
Bist du ein Mitglied des Stammes oder nicht?“ | |
Abraham war also der Dritte in unserem Bunde. Und der interkulturelle | |
Austausch danach war der Anfang vom Ende für meine Vorhaut. Aber das wusste | |
ich natürlich noch nicht. | |
Ein paar Monate später lehnte sich ein Chirurg über mich, entfernte ein | |
paar Zentimeter Haut – und ich musste nach und nach feststellen, dass viel | |
von dem Gerede über die Beschneidung erstaunlich wenig fundiert ist. | |
Ich war 18. Religion war nie ein Teil des Lebens meiner Familie. Meine | |
Mutter war evangelisch, die Familie meines Vaters jüdisch. In ihrem Inneren | |
trugen die beiden die Erfahrung der deutschen Besatzung Dänemarks – das | |
Wissen wurde fast in ihre DNA geschrieben: wie Religion als Instrument | |
verwendet wird, das Menschen trennt und Leben zerstört. Zu Hause | |
diskutierten wir nie über Religion. Nie. | |
Mein Großvater hatte in einem visionären Moment beschlossen, den alten | |
biblischen Namen der Familie zu ändern. Dieser Großvater hatte meinen Vater | |
auch gelehrt, dass Schweinefleisch wirklich gut schmeckt – besonders mit | |
einer dicken, sahnigen Sauce. Kurz: Die Familie meines Vaters war ganz und | |
gar assimiliert. Ich musste erst Miriam treffen, um über meine Wurzeln | |
nachzudenken. | |
Mein Interesse an Religion und Abraham erreichte seinen Höhepunkt, als ich | |
auf dem OP-Tisch lag und beobachtete, wie der Chirurg ein Lokalanästhetikum | |
in die Unterseite meines Penis injizierte. Dann griff er zur Schere. Ein | |
paar Minuten später lag meine Vorhaut in einem Mülleimer, ich im | |
Aufwachbett, und meine blutige Männlichkeit war mit einer dicken Schicht | |
Gaze abgedeckt. | |
## Heftige Schmerzen | |
Aus chirurgischer Sicht war der Eingriff gut verlaufen. Doch ich erlebte in | |
den Tagen danach heftige Schmerzen. Ich frage mich bis heute, wie | |
Erwachsene es verantworten, dass sogar neugeborene Jungen diese Schmerzen | |
durchleben müssen. Wer sagt, das es nicht wehtut, sollte einmal versuchen, | |
in den Tagen nach dem Eingriff auf dem Bauch zu schlafen. Auch das Pinkeln | |
war nicht gerade lustig – allein meinen Penis zu halten war schmerzhaft. | |
Ich konnte damit umgehen. Aber Kinder? Muss das sein? | |
Vor dem Eingriff hatte ich mehrere Ärzte befragt. Ich hatte über das | |
Verfahren und seine Folgen gelesen und mir war – wieder und wieder – | |
versichert worden, dass eine männliche Beschneidung in jedem Fall eine | |
Win-win-Erfahrung ist. | |
Aber es war und ist nicht die Zeit, in der man wirklich fragt, warum die | |
Vorhaut als eine Art Neandertal des männlichen Körpers dargestellt wird, | |
als evolutionäre Sackgasse. Warum also der Eichel ihre Hülle genommen | |
werden muss, warum ein Stück Haut mit Zehntausenden von Nervenenden | |
amputiert werden soll und die Empfindlichkeit des Mannes dramatisch sinken | |
muss. | |
## Medizinische Mythen | |
Damals wusste ich das nicht – aber einige der Ratschläge, die ich in dieser | |
Zeit bekommen habe, gründeten offenbar auf medizinischen Mythen aus dem | |
onaniebesessenen viktorianischen England. Sie stammten aus der Vorzeit, in | |
der die Ärzte tatsächlich glaubten, dass die Vorhaut die Quelle schwerer | |
Schäden war. Die Beschneidung wurde verordnet, um junge Männer in ihrem | |
unkontrollierbaren Drang zu stoppen, mit ihrem frechen, bösen, sündigen | |
Schwanz zu spielen. | |
Die Operation kann aber auch so viel anderes – sagten meine Ärzte und sagen | |
Ärzte heute: Das Risiko einer Harnwegsinfektionen sinke. (Aber es gibt doch | |
Penicillin.) Eine Beschneidung beuge Peniskrebs vor. (Der ist extrem | |
selten, erst später fanden Forscher heraus, dass er durch einen Virus | |
verursacht wird.) | |
Die Wochen nach der OP kommen mir heute vor wie eine fast ununterbrochene | |
Erektion. Es war unglaublich unbequem. Aber ich habe es überstanden. | |
Dann fuhr ich in den Herbstferien zu Miriam. Es wurde die Woche, in der ich | |
herausfand, dass all die, die über die absolute Harmlosigkeit der | |
Beschneidung sprechen, oft mehr Meinung als Ahnung haben. | |
Die gute Nachricht zuerst: Mit der reduzierten Empfindlichkeit dauerten die | |
Spiele oft länger. Aber das war es dann auch schon. Mit meiner Vorhaut war | |
auch das überschäumende, sprudelnde Gefühl beim Orgasmus verschwunden. | |
## Leitungswasser statt Springbrunnen | |
Die physischen Wahrnehmungen beim Sex wandelten sich, sie wurden lokaler. | |
Es ist schwer zu erklären – als ob nicht mehr mein ganzer Körper im Spiel, | |
eine große Freude verschwunden war. Leitungswasser statt Springbrunnen. | |
Aber das ist noch nicht alles. Weil die Eichel nun ungeschützt war und ich | |
weniger reizbar, war der sanfte, langsame Sex von da an Geschichte. | |
Vor der Operation konnten meine Partnerin und ich ganz still liegen. Ich | |
konnte sie, in ihr, fühlen – wir konnten uns küssen und gegenseitig | |
streicheln und ganz langsam einen Orgasmus erreichen, der dann wirklich | |
überall war. Das war vorbei. | |
Kürzlich entdeckte ich, dass es auf Deutsch das Wort „Stoßtechnik“ gibt �… | |
und es war genau das, was ich jetzt lernen musste. Härteres und schnelleres | |
Stoßen war erforderlich, wenn ich etwas davon haben wollte. | |
## Die sensible Leichtigkeit war verschwunden | |
Aber am größten war der Unterschied, wenn Miriam auf eine Reise südlich des | |
Äquators ging. Da fehlten plötzlich einige – viele – Empfindungen. Die | |
sensible Leichtigkeit war verschwunden – und kam nie zurück. Schlimmer | |
wurde es, als mit Aids die Kondome kamen. Ein Utensil, das die | |
Empfindlichkeit weiter reduziert. Noch ein Grund, warum ich die 1980er | |
Jahre nicht vermisse. | |
Nun, ich bin kein Verfassungsrechtler. Wenn die Kinder bei Freunden oder | |
beim Fußball sind und meine Frau mit nassen Haaren aus der Dusche kommt, | |
dann denke ich nicht zuerst an die Religionsklauseln der Europäischen | |
Menschenrechtskonvention. Ich bin auch kein Anthropologe, | |
Religionshistoriker oder Mediziner. Sollen sich doch andere und weisere | |
Menschen Gedanken darüber machen, warum diese Vorhaut vorzugsweise vor der | |
Pubertät amputiert werden sollte. Ich glaube – und ich habe Gründe dafür �… | |
dass der Zweck eindeutig ist: den Liebesakt von einem Dialog zu einem | |
Monolog zu machen. | |
Es ist mehr als dreißig Jahre her, dass ich auf dem OP-Tisch lag. Ich bin | |
verheiratet und habe drei Kinder. Zwei Jungen. Und ich schwöre: Kein | |
Messer, keine Schere wird je in die Nähe ihrer Vorhaut kommen. Stattdessen | |
werde ich ein paar Kondome in ihre Handy-Socke stecken. | |
Und Miriam? Sie lebt mit einem südamerikanischen Musiker zusammen, ihre | |
Kinder sind Katholiken. Das ist – was die Beschneidung angeht – wohl auch | |
eine Art von Fortschritt. | |
14 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Niels Juel | |
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