# taz.de -- Daniel Cohn-Bendit über das EU-Manifest: „Es geht um Quantenspr�… | |
> Für ein postnationales, föderales Europa mit Sozialpakt und gemeinsamer | |
> Armee: Daniel Cohn-Bendit über sein leidenschaftliches Manifest. | |
Bild: Im multinationalen Europa hat sich ein Fehler versteckt. Finden Sie ihn? | |
taz: Herr Cohn-Bendit, in Ihrem Manifest „Für Europa“ streiten Sie vehement | |
für einen europäischen Bundesstaat, der mehr Macht bekommen soll. Aber will | |
das heute überhaupt jemand in dieser von der Krise gebeutelten EU? | |
Daniel Cohn-Bendit: Ich war gerade in Spanien und habe mit vielen, auch mit | |
Jugendlichen gesprochen. Denen sage ich: Erst einmal hat euch Spanien in | |
die Krise geritten und nicht die EU. Die EU könnte euch aber dabei helfen, | |
die Krise zu überwinden. Denn die Krise, die wir haben, ist eine Krise, die | |
die Nationalstaaten und ihre Wirtschaft produziert haben. Allerdings war | |
auch die EU dafür blind. Es stimmt, dass heute viele Menschen sagen: Die | |
Ursache der Probleme ist die EU. Im Buch versuchen wir zu zeigen, wie eine | |
Antwort der EU aussehen könnte. | |
Aber die EU hat doch in den vergangenen Jahren nichts gegen die Krise | |
getan? | |
Ja, aber die Nationalstaaten auch nicht. Das könnte man sich jetzt lange | |
vorwerfen. Wir wollen zeigen, wie die EU eine Antwort geben kann. Unsere | |
Grundidee ist banal: In 30 Jahren wird kein europäischer Staat mehr | |
Mitglied der G 8 sein. Die Nationalstaaten werden keinen Einfluss mehr | |
haben. Schon heute haben die Märkte die Souveränität über die Staaten. Die | |
einzige Ebene, auf der man politische und wirtschaftliche Souveränität | |
zurückgewinnen kann, ist die europäische. Das versuchen wir zu erklären. | |
Sie schreiben in Ihrem Manifest, dass ohne den europäischen Binnenmarkt die | |
Arbeitslosigkeit heute noch höher wäre. Beweisen lässt sich das aber kaum. | |
Das ist eines der Probleme, die wir haben. Es ist einfach, auf die Krise zu | |
zeigen und zu sagen: Also seid ihr alle schuld. Aber ich bleibe dabei: Wenn | |
wir diese EU nicht hätten, wäre die Krise viel schlimmer auf uns | |
hereingeprasselt, weil jeder Staat allein gestanden wäre. | |
Viele Deutsche würden sagen: Wäre aber besser gewesen! Sie wären lieber | |
allein als mit den Griechen in einem Boot. | |
Das ist richtig. Das leugne ich nicht. Es gibt einen neoliberalen | |
Souveränismus der Deutschen, die sagen, wir würden besser aus der Krise | |
herauskommen, wenn wir allein wären. Aber die Klimakrise kann man nicht | |
allein lösen, die Regulierung der Märkte kann man auch nicht allein machen. | |
Das kann man schon sehen: Vor zwei Jahren noch hat die Bundesregierung | |
gesagt: Bankenaufsicht geht nur national. Aber sie haben gemerkt, dass das | |
nicht geht wegen der Verstrickung der europäischen Banken. Jetzt versuchen | |
sie, eine europäische Lösung zu finden. | |
Trotzdem: Deutschland ist die stärkste Wirtschaftsmacht in der Europäischen | |
Union. | |
Deutschland wird 2060 nur noch 60 Millionen Menschen haben. Was wird | |
Deutschland sein? Auch wenn man sich Deutschland mit einer Einwanderung | |
denkt, wird es ohne Verbund in Europa keine wirtschaftliche oder politische | |
Bedeutung mehr haben. Das ist unsere These. Ihr könntet mir erzählen: Dann | |
kommen eben Einwanderer. Das möchte ich aber sehen, wie die Bundesregierung | |
den Deutschen sagt, dass wir 10 Millionen Einwanderer in den nächsten 30 | |
Jahren bräuchten. Das föderale Europa wäre hingegen auch für Konservative | |
eine Lösung. | |
Sie beschreiben die EU an mehreren Stellen auch als ein Bollwerk gegen | |
China, die USA oder Brasilien. Wenn wir auf die Werte schauen: Welche sind | |
denn so schützenswert? Die derzeitige Flüchtlingspolitik der EU zum | |
Beispiel ist alles andere als human. | |
Nur weil EU darauf steht, wird nicht sofort die bessere Politik gemacht. | |
Aber eine Flüchtlingspolitik, die diesen Namen verdient, kann man nur | |
europäisch machen. Wir entwerfen in unserem Buch einen politischen Rahmen. | |
Aber natürlich regiert die EU die gleiche politische Mehrheit wie in den | |
Nationalstaaten. Deshalb führen wir einen doppelten Kampf: für einen | |
bestimmten politischen Rahmen und für eine politische Mehrheit. Doch die EU | |
zwingt einen, aus der nationalen Provinzialität herauszutreten. Das ist der | |
einzige Vorteil. | |
Bleiben wir einmal bei der Einwanderungspolitik. Warum würde sie besser | |
funktionieren in einem föderalen Europa? | |
Sie wäre nicht unbedingt besser. Aber die Chance, dass es besser wird, ist | |
größer, wenn wir den richtigen Rahmen haben. Man könnte zum Beispiel sagen, | |
Menschen aus Nordafrika bekommen ein Visum von sechs Monaten, um sich eine | |
Arbeit in der EU zu suchen. So würde man den Druck auf die illegale | |
Einwanderung reduzieren. | |
Welche Politikbereiche müssen noch europäisch werden? | |
Wir haben in Europa eineinhalb bis zwei Millionen Soldaten. Das ist doch | |
absurd. Warum brauchen wir 27 mal die gleichen Panzer? Kann mir das mal | |
einer erklären? Niemand. Ein postnationales Europa wird am Ende eine | |
europäische Armee haben mit rund 300.000 Soldaten. Wir brauchen eine | |
europäische Armee, die in der Lage ist, in den jetzigen Konflikten zu | |
intervenieren, wenn es sein muss. | |
Die Franzosen haben aber große Schwierigkeiten, ihre eigene Armee | |
aufzugeben! | |
Das Ziel dieser Armee war immer, dass nie wieder jemand Frankreich besetzen | |
kann. Mit Europa ist das vorbei. Also brauchen wir keine eigene | |
französische Armee. Die Vorstellung, Russland würde eines Tages Frankreich | |
besetzen, die ist doch absurd. | |
Was würde am Ende noch übrig bleiben für die Nationalstaaten? | |
Sie werden die Schulen haben, die Polizei, die Kultur. Es wird einen | |
europäischen Sozialpakt geben mit unterschiedlichen Ausformungen der | |
Sozialpolitik in den Ländern. Ich weiß nicht, ob das in 30, 40 oder 50 | |
Jahren sein wird. Aber wir brauchen einen Kompass, eine Orientierung. Wir | |
können viele kleine Schritte machen, wenn wir eine Orientierung haben. | |
Aber wer will denn in Ihre Richtung? Die Regierungen wollen sicher keine | |
Macht abgeben. | |
Sie würden die Macht doch nur teilen! | |
Aber sie würden an Einfluss verlieren. Die Staaten könnten nicht wie bisher | |
mit ihrer Vetostimme die Politik blockieren. | |
Sie würden an Vetoeinfluss verlieren, aber an Gestaltungseinfluss gewinnen, | |
weil sie wieder Dinge gestalten könnten, die sie heute gar nicht mehr | |
beeinflussen könnten. | |
Frau Merkel sieht das vermutlich nicht so? | |
Ich glaube, es ist noch schlimmer: Sie sieht das. Aber sie weiß nicht, wie | |
sie das dem deutschen Volk erklären soll. Wir stehen vor dem Problem, dass | |
die politische Elite den Meinungsströmungen im Volk nachläuft. In einer | |
Demokratie muss das Volk natürlich zustimmen. Aber erst einmal kann man | |
Ideen reinbringen. Der Ausstieg aus der Atomenergie war nicht gottgegeben | |
und nicht in den Genen der Deutschen festgelegt. Es war ein langer | |
politischer Prozess, wo am Ende die Mehrheit entschieden hat. Man könnte | |
durchaus Argumente für mehr Gemeinschaft finden. Man könnte den Deutschen | |
zum Beispiel sagen, dass wir viel Geld sparen würden mit einer europäischen | |
Armee. Die Mehrheit der Deutschen will nicht aus dem Euro raus. | |
Aber würden sie nicht gern die Griechen rauswerfen? | |
Das ist der regionale Egoismus. Ich nennen das die Lega-Lombardisierung des | |
Bewusstseins: Die Norditaliener der Lombardei wollen die Süditaliener | |
rausschmeißen. In unserem Buch sprechen wir viel vom nationalen Egoismus. | |
Das ist das Bohren dicker Bretter. Und das Manifest ist ein kleiner Beitrag | |
dagegen. | |
Sie machen durchaus konkrete Vorschläge in Ihrem Buch, wie Sie den | |
Bundesstaat Europa erreichen wollen. Die EU-Kommission soll die neue | |
Regierung werden. | |
Wir haben diese unmögliche Konstruktion, bei der sich Montesquieu im Grab | |
umdrehen würde: Exekutive und Legislative in einem, nämlich im Europäischen | |
Rat. Das müssen wir ändern. Wir haben die Wahl: Entweder wir definieren die | |
EU-Kommission als Exekutive. Der Rat wäre dann die zweite Kammer, die die | |
Exekutive kontrolliert wie das Europäische Parlament als erste Kammer. Wenn | |
das nicht geht und der Rat in der Exekutive bleibt, dann muss man ihn | |
rausnehmen aus der Legislative. Dann müsste der europäische Senat aus | |
Vertretern der nationalen Parlamente bestehen. Und sie kontrollieren die | |
Exekutive. | |
Es gab schon viele Versuche seit der griechischen Antike und Platon, den | |
idealen Staat zu skizzieren. Aber die Bürger von heute, die wollen doch | |
keine Föderalregierung in Brüssel. Ist Ihre Vision überhaupt realistisch? | |
Den ersten Philosophen der Aufklärung wurde das auch immer | |
entgegengehalten: Was, Wahlrecht für alle? Spinnt ihr? Dann kam Rousseau | |
mit seiner Menschengleichheit. Es geht um zivilisatorische Quantensprünge. | |
Und die brauchen Zeit. Skepsis ist angebracht. Aber trotzdem will ich die | |
Debatte. Um etwas der Krise entgegenzusetzen, brauchen wir die europäische | |
Perspektive. Wenn wir eine gerechtere Welt wollen, dann brauchen wir | |
Akteure, die eine aus den Fugen geratene Globalisierung wieder regulieren | |
und gestalten können. Und das ist unsere These: Nur Europa wird das | |
schaffen. Dann muss mir jemand etwas entgegensetzen wie: Nein, das macht | |
die Basisgruppe Göttingen. Okay, dann streiten wir darüber. | |
2 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Ruth Reichstein | |
Ruth Reichstein | |
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