# taz.de -- Friedensnobelpreis für die EU: Jetzt also auch wir. Danke, ganz li… | |
> Kommt diese Ehrung zur Unzeit – jetzt, wo dem Projekt die Luft ausgeht? | |
> Oder ist sie womöglich doch ein kleiner, nützlicher Beitrag zur | |
> europäischen Identität? | |
Bild: Jetzt nur nicht abheben: Wir alle sind Friedensnobelpreis! | |
WIEN taz | Wir sind Papst! war gestern. Jetzt gilt: Wir sind | |
Friedensnobelpreisträger! Wir alle, Bürger und Bürgerinnen der Europäischen | |
Union, wurden vom Komitee in Oslo ausgewählt und geehrt, wegen des | |
historischen Friedensprojekts, das wir verwirklicht haben. Wenn das nur gut | |
geht, können jetzt Zyniker einwerfen: Haben nicht schon Henry Kissinger und | |
Jassir Arafat diesen Preis gekriegt? Jetzt also auch wir. Danke, ganz lieb. | |
Aber Zynismus ist, wie immer, billig. Und gerechtfertigt ist dieser Preis | |
allemal. Ein Kontinent, dessen Nationen jahrhundertelang in Machtkonkurrenz | |
zueinander standen und verheerende Kriege vom Zaun brachen, wurde in | |
kleinen Schritten zu einer „Europäischen Union“ geeint, von visionären | |
Politikern. Gewiss, die meisten von denen sind heute tot, und ihre | |
Nachfolger und Nachfolgerinnen sind nicht immer so visionär, aber | |
preiswürdig ist das allemal. | |
Nur, kommt der Preis nicht zur Unzeit? Was soll so ein Preis in dem Moment, | |
in dem diesem Projekt offenkundig die Luft ausgeht? Vor unser aller Augen | |
droht diese Europäische Union in nationalem Hickhack zu zerfallen. Deutsche | |
gegen Griechen, Südländer gegen Nordländer, die „Unsoliden“ gegen die | |
„Soliden“. Die heutigen Staatenlenker spielen sogar mit auf der Klaviatur | |
der niedrigen Ressentiments. Populisten wettern gegen „Brüssel“. Und machen | |
damit schnelle Punkte bei einer Bürgerschaft, die eher ein angewidertes | |
Publikum ist, das so ziemlich gegen alles wütend ist, womit die | |
technokratische, etablierte Politik verbunden werden kann. | |
## Hat die EU den Preis verdient? | |
Hat eine Europäische Union, die seit Jahren auf der Stelle tritt, die ihre | |
Probleme nicht lösen kann, die Solidarität tagtäglich mit mehr als einer | |
Prise nationalem Egoismus mischt und die autoritäre Tendenzen wie in Ungarn | |
toleriert, hat eine solche Europäische Union solchen Preis verdient? | |
Einerseits nein. Andererseits hat es sich die norwegische Nobelpreisjury | |
auch zur Gewohnheit gemacht, ihre Preise als Ermutigung und auch ein wenig | |
als Ermahnung zu vergeben, und damit gewissermaßen auch als Wetteinsatz. An | |
Preisträger, die den Preis halb verdient haben, in der Hoffnung darauf, sie | |
würden ihn sich irgendwann auch ganz verdienen. Als Wette darauf, dass | |
diese Europäische Union nicht untergeht in dem großen Pallawatsch, aber als | |
Wetteinsatz, der gleichzeitig den Ausgang der Wette beeinflussen soll. | |
Als Zuruf gewissermaßen: Hey, begreift ihr eigentlich, was ihr aufs Spiel | |
setzt!? | |
Der erwähnte Henry Kissinger hat in seiner realpolitischen Kälte einmal | |
ironisch darauf hingewiesen, wenn er die „Friedensmacht Europa“ anrufen | |
wolle, dann habe er nicht einmal eine Telefonnummer. Wer ist denn dort der | |
Ansprechpartner? Kommissionspräsident? Ratspräsident? Die deutschen oder | |
französischen Premiers? Gar der EU-Parlamentspräsident? | |
## Wer „ist“ diese EU? | |
Es ist nicht ohne Ironie, dass jetzt nicht einmal klar ist, wer diesen | |
Preis entgegennehmen kann. Wer „ist“ diese EU, wer repräsentiert sie? Wer | |
übernimmt für sie in Oslo den Scheck? | |
Das ist mehr als nur ein amüsantes Aperçu. Die Union hat ein | |
institutionelles Tohuwabohu etabliert, sodass sie ein institutionelles | |
Netzwerk ohne Gesicht geworden ist. Das mag einer Ära sogar angemessen | |
sein, in der Macht nicht etwas ist, das irgendjemand hat, sondern vielmehr | |
etwas, das eher fluide in den Kapillaren eines Netzwerkes prozessiert – in | |
der also das Netzwerk die Macht ist. Aber es ist auch ein Problem: Nicht | |
nur weil Repräsentation wichtig ist, sondern auch weil die verschiedenen | |
Machtknoten sich gegenseitig blockieren können. | |
Im Wienerischen gibt es die Redewendung „Nutzt’s nix, dann schadt’s nix�… | |
was so viel heißt wie: Es ist zwar fraglich, ob es nützt, aber es ist | |
sicher, dass es zumindest nicht schadet. Und es gibt immerhin eine gewisse | |
Wahrscheinlichkeit, dass es nützt. Das gilt wohl auch für diesen Preis. | |
## Ein kleiner Beitrag | |
Wer weiß, vielleicht sind ja einige von diesen BürgerInnen Europas, die | |
dieser Europäischen Union mit Ressentiment und Indifferenz gegenüberstehen, | |
jetzt für einen kleinen Augenblick stolz darauf, dass wir alle zusammen und | |
damit auch sie persönlich diese Auszeichnung erhalten haben. Dann ist | |
dieser Preis wenigstens ein kleiner Beitrag zur europäischen Identität. | |
Ja, wir, also Sie als Leser und ich als Autor dieses Textes, wir sind in | |
diesem Fall nicht bloße Produzenten und Konsumenten der Berichterstattung, | |
sondern gewissermaßen auch Objekt derselben. Und ich weiß ja nicht, wie Sie | |
darüber denken, aber ich, ich bin gern bereit, auf meinen aliquoten Anteil | |
am Preisgeld von 8 Millionen schwedischen Kronen zu verzichten, und bitte | |
darum, die Kohle nach Athen an ein ambitioniertes Projekt zu überweisen, | |
das Jobs für arbeitslose junge Menschen schafft. | |
12 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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