# taz.de -- Debatte Urwahl der Grünen: Ein Lob der Peinlichkeit | |
> Die Grünen suchen ihre Spitzenkandidaten auf zutiefst demokratisch Weise | |
> aus. Das ist manchmal absurd und peinlich, doch es tut allen gut. | |
Bild: Pscht, nicht stören, hier passiert grad Demokratie | |
Ja, es gab sie, diese Momente, in denen die Möchtegernspitzenkandidaten der | |
Grünen so peinlich wurden, dass man vor Fremdscham nicht mehr hinschauen | |
konnte. Dafür sorgten elf ambitionierte, ausschließlich männliche | |
Frohnaturen, die glaubten, ein großes Ego reiche aus, um mal eben im | |
Bundestagswahlkampf gegen die Kanzlerin bestehen zu können. | |
Es trat ein Student aus Bayreuth auf, mit Baseballkappe und reichlich | |
Pathos, der vor allem das schlagende Argument vortrug, er sei schließlich | |
jung. Es trat ein fränkischer Zimmermeister auf, der „diese ganzen | |
Südländer“ wohl am liebsten aus Europa rauswerfen würde. Es trat ein | |
niederbayerischer Kleintierarzt auf, der säuselte, seine Tochter habe ihn | |
gefragt, ob er die Welt retten könne. | |
War die Urwahl der Grünen also in Wirklichkeit ein unpolitisches | |
Kuriositätenkabinett? Nein, das wäre zu einfach. Der Peinlichkeitsfaktor | |
wird von dem, was die Partei in den vergangenen Wochen mit großem Aufwand | |
organisierte, allenfalls als Fußnote in Erinnerung bleiben. Gelebte | |
Basisdemokratie allein unter popkulturellen Gesichtspunkten zu sehen, würde | |
dem Anliegen nicht gerecht. | |
Entscheidend ist etwas ganz anderes, nämlich, dass die Grünen den Mut | |
gehabt haben, eine heikle Frage zutiefst demokratisch zu klären. Wenn | |
Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke an diesem Samstag die Sieger | |
bekanntgibt, die für die Partei den Bundestagswahlkampf ganz vorn | |
bestreiten, haben die beiden das Votum der Mitglieder hinter sich. Sie | |
verfügen über einen echten demokratischen Rückhalt, nicht nur über den | |
einer klandestinen Runde der angeblich wichtigsten, aber letztlich | |
willkürlich ausgewählten Parteistrategen. | |
Welche Brüche eine autokratische Kür zwischen Kandidat und Partei | |
produzieren kann, wird die SPD in diesem Wahlkampf zu spüren bekommen. Die | |
luxuriösen Nebeneinkünfte Peer Steinbrücks, die rechtens, aber dem kleinen | |
Sozialdemokraten nicht vermittelbar sind, dürften da nur ein Auftakt sein. | |
## Aus der Not geboren | |
Die euphorische Grünen-Spitze will im Moment allerdings vergessen machen, | |
dass ihr Mut nur aus einer Notsituation heraus entstand. Die Grünen griffen | |
nicht nur aus hehren Motiven zur Urwahl, sondern auch, weil sich vier, fünf | |
Spitzenpolitiker monatelang nicht einigen konnten, wer sich im | |
Bundestagswahlkampf für Ministerposten in Stellung bringen darf. Diese | |
Dauerintrige mussten die Grünen beenden, zudem mussten sie eine Lösung | |
forcieren. Deshalb entschieden sie sich, die Entscheidung dem obersten | |
Souverän zu übertragen. Das war goldrichtig. Aus der Not geboren, | |
entfaltete die Basisabstimmung gleich mehrere positive Effekte. | |
Politik steht bei vielen Bürgern heutzutage unter dem permanenten Verdacht | |
der Hinterzimmerklüngelei. Viele Menschen sind der bis zur Inhaltsleere | |
abgeschliffenen Floskeln müde, ebenso sind sie es müde, von Politikern von | |
Rednerpulten oder Talkshowsesseln aus die Welt erklärt zu bekommen. Wenn | |
etwas vom Piratenhype geblieben ist, dann dies: Politik muss eine neue | |
Ansprache an Bürger finden. | |
Genau dies gelang den Grünen mit der Urwahl. Ein Dialog auf Augenhöhe. Die | |
Kanzlerin inszeniert eine ähnliche Form des Austauschs seit langem in | |
sogenannten Regionalkonferenzen, gerne vor Parteitagen, weil diese | |
Bürgerdialoge für sie vor allem ein Instrument des Machterhalts sind. Bei | |
Merkel wirkt das immer abgesprochen, bei den Grünen hingegen wirkte es | |
unverstellt. Und hier gab es, anders als bei Merkel, wirklich etwas zu | |
entscheiden. | |
Die teils skurril wirkenden, aber immer um Ernsthaftigkeit bemühten | |
Urwahlforen waren gut besucht, sie zogen auch Interessierte an, die kein | |
Grünen-Parteibuch besitzen. Die Menschen fanden offenbar attraktiv, dass | |
sich Politiker in eine uneitle Situation begeben und ganz normale Fragen | |
ganz normaler Menschen beantworten. Die Urwahl bestätigt einmal mehr eine | |
schlichte Erkenntnis: Basisdemokratie ist kein lästiges Gedöns mehr, | |
sondern ein kaum zu überschätzendes Element politischer Legitimation. Und | |
Parteien tun gut daran, mit der Ermächtigung der Bürger gegenüber | |
institutionalisierter Politik zu experimentieren. | |
## Für Profis und Laien gut | |
Die Grünen erfuhren jedenfalls, wie lohnend es sein kann, dieses Bedürfnis | |
ernst zu nehmen. Nicht nur die hohen Besucherzahlen der Foren waren ein | |
Erfolg, auch die Zahl der Neueintritte stieg durch die Urwahl leicht an. | |
Und die Marketingstrategen in der Partei werden wochenlang beglückt durch | |
die Stöße der Zeitungs- und Magazinberichte blättern, die die Urwahl | |
produzierte. Selbst journalistische Berufszyniker begleiteten sie mit einem | |
erstaunlich positiven Grundtenor. | |
Nicht zu unterschätzen dürfte auch der pädagogische Effekt der Urwahl sein, | |
der beiden Seiten in der Partei guttat – den Profis und der Basis. Einem | |
Jürgen Trittin, dem ein gewisser Hang zur Überheblichkeit nachgesagt wird, | |
tut es ebenso wie den anderen Spitzenkräften nur gut, sich auch mal in die | |
angeblichen Niederungen zu begeben, um dort um Legitimation zu bitten. | |
Umgekehrt realisierte auch die Basis, was sie an ihren Profis hat. Übrigens | |
auch deshalb, weil das Gefälle zu den Basiskandidaten so augenfällig war. | |
Politik ist ein brutales Geschäft. Sie braucht Vollprofis, die Härte und | |
Durchhaltevermögen mit Intellekt und Leidenschaft verbinden. Das kann nicht | |
jeder. | |
Diese Lektion lernen die Piraten gerade schmerzhaft, manche ihrer | |
Spitzenleute fallen vor allem durch Weinerlichkeit auf. Der Grünen-Basis | |
wurde der Unterschied zwischen Laien und Profis durch die Urwahl einmal | |
mehr vor Augen geführt. Sie produzierte also Wertschätzung auf beiden | |
Seiten, was die Bindewirkung innerhalb der Partei erhöht. | |
Wenn nun manche Grüne aus den Ländern fordern, eine künftige | |
Spitzenkandidatenkür mit niedrigen Zugangshürden zu versehen, ist dies | |
sicher sinnvoll. Festzulegen, dass Aspiranten zum Beispiel das Votum eines | |
Kreisverbandes brauchen, hätte den ein oder anderen Profilneurotiker | |
verhindert. Aber dies ist, wie gesagt, eine Fußnote. Die Grünen können | |
stattdessen selbstbewusst ein Loblied der Peinlichkeit singen. | |
9 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Ulrich Schulte | |
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