| # taz.de -- Unruhe bei Bremens Grünen: Das Raunen des Traumas | |
| > Die Abgeordnete Marieluise Beck war Mitglied jeder | |
| > Grünen-Bundestagsfraktion. Jetzt muss sie sich erstmals einer | |
| > Herausforderin stellen. | |
| Bild: Muss sich erstmals einer Herausfordererin stellen: Marieluise Beck, die g… | |
| BREMEN taz | Interessant ist eigentlich nur diese Unruhe. Die ist da, wie | |
| eine gesteigerte Herzfrequenz, aber diffuser, und sie scheint aus den | |
| Urgründen der Partei zu stammen. Zwar zerfleischen sich die Grünen nicht | |
| wie die Bremer CDU. Auch geht die Unrast nicht so dolle von den | |
| Kandidatinnen aus: „Klar war ich nervös“, sagt Marieluise Beck, die | |
| Veteranin, „weil wir das ja so noch nicht hatten“, aber das hat sich | |
| gelegt. Und als erbittert lässt sich der interne Wahlkampf erst recht nicht | |
| bezeichnen. „Ich bewundere ihre Menschenrechtsarbeit“, sagt Herausforderin | |
| Kirsten Kappert-Gonther, Ärztin, Jahrgang ’66 und seit Sommer 2011 in der | |
| Bürgerschaft, über Beck. | |
| Doch in der Partei wird getuschelt und geraunt und gewispert und geätzt, | |
| und der eine simst dem anderen, dass er gehört habe, dass, oder umgekehrt, | |
| kurz, es ist ein Stock in den Ameisenhaufen gefallen: Noch nie hat’s zudem | |
| eine grüne Bundestagsfraktion gegeben, der Marieluise Beck nicht angehört | |
| hätte. Am Anfang war sie baden-württembergische Abgeordnete, aber danach | |
| war Bremen ihr Wahlkreis, und als sie 1990 pausiert hatte, blieben die | |
| Grünen unter fünf Prozent. | |
| ## Produktive Unruhe | |
| „Wir wollten produktive Unruhe in der Partei“, sagt | |
| Landesvorstandssprecherin Henrike Müller. Und nur deshalb sei intern aktiv | |
| nach Bewerberinnen gesucht worden, „das war kein Votum gegen Marieluise“. | |
| Was Bundestagsabgeordnete tun sollen und was man von ihnen erhoffen darf, | |
| sind Fragen, die sich eine Partei ab und zu stellen kann. Inhaltlich hält | |
| sich Müller dabei bedeckt: „Wir geben keine Empfehlung ab.“ Und Hermann | |
| Kuhn, Nummer zwei im Landesvorstand, schweigt so eisern, dass einige | |
| Insider meinen, er wäre an allem unbeteiligt. Was ja komplett falsch ist, | |
| behaupten andere, das exakte Gegenteil sei wahr. „Ich sage dazu nichts“, | |
| sagt Kuhn. | |
| Die Bremer Entscheidung wirkt viel weniger wie eine Beteiligungs-Show als | |
| die leicht bizarre Spitzen-Duo-Urwahl, deren Ergebnis am Sonntag bekannt | |
| gegeben wird. Wie die Sache in Bremen ausgeht, ist völlig offen. Ein paar | |
| der alten Hasen sind über den Gesamtvorgang empört, dass hier zwei | |
| Bewerberinnen antreten, und finden prompt die Gegenkandidatin doof und | |
| wittern Intrigen. Aber ihre AkteurInnen in einem öffentlich einsehbaren | |
| Verfahren auszutauschen ist nun mal ein Merkmal demokratischer Systeme. Und | |
| diese personelle Fluktuation zu gestalten eine der heikelsten Aufgaben von | |
| Politik, anfällig für Kränkungen und voller Emotionen. Aber außer um | |
| Eitelkeiten geht’s um die Distribution von Macht. Und um Gerechtigkeit. | |
| ## Ein tiefes Trauma | |
| Das ist hart, gerade für die Grünen. Sonst sind die ja ein ewiger Born für | |
| formale Lösungen in Sachen Umwelt-, Geschlechter-, und überhaupt | |
| Gerechtigkeit, von der Frauenquote übers regulierte Amts-Mandats-Verhältnis | |
| bis zum Beschluss über die Beschaffenheit des Parteitags-Büffets. | |
| Einmal aber ist dieser Politikansatz krachend gescheitert – beim Versuch, | |
| personellen Wechsel zu organisieren. Anfang der 80er war die Rotation das | |
| Symbol dafür, dass man total anders war als die anderen Parteien mit ihren | |
| verachteten BerufspolitikerInnen, die Jahrzehnte am Mandat kleben blieben. | |
| Nur, obwohl nicht nur Beck seinerzeit brav mitrotierte, wären die Grünen | |
| fast dran zerbrochen: Ikone Petra Kelly weigerte sich, den Sitz zu räumen, | |
| Gert Bastian trat aus, um im Bundestag zu bleiben, und damit war das | |
| Prinzip erledigt. Und es hinterließ ein tiefes Trauma: Wie oft eine | |
| Abgeordnete wiedergewählt werden darf, ob Amts- und Mandats-Dauern wie in | |
| fast allen Staaten Amerikas beschränkt werden sollten – auch in Bremen | |
| übergehen Grüne solche Fragen lieber, und gerade auch die Senatsmitglieder, | |
| die 30 Jahre Bundestag für zu lang halten. | |
| „Ich lasse mich nicht instrumentalisieren“, sagt Kappert-Gonther. Natürlich | |
| habe sie UnterstützerInnen, „alles andere wäre naiv“. Aber sie sei von si… | |
| aus ins Duell gegangen, unbedrängt, „es hat sich für mich aus der Arbeit | |
| als Abgeordnete ergeben“. | |
| Tatsächlich ist ihr Feld Gesundheitspolitik – und da ist Landespolitik arg | |
| limitiert: Die Sozialgesetzgebung spielt im Bundestag, die Entgeltordnungen | |
| die Fehlanreize – alles made in Berlin, und verschärft dann in Bremen die | |
| Schieflage der kommunalen Kliniken. Dass Krankenhäuser mit | |
| Unternehmensüberschüssen derzeit die Sanierung der Kassen finanzieren | |
| müssen, beruht laut Kappert-Gonther auf einer „eklatanten Fehleinschätzung | |
| der Bundesregierung“, wie sie sagt. „Wir haben das in unserem Antrag so | |
| schön formuliert“: Die Bürgerschaftsfraktion will das via Bundesrat ändern. | |
| Im Bundestag sind bislang nur drei Grüne für Gesundheit zuständig, dabei | |
| ist das Thema groß im Kommen – und die Partei hat mit dem Konzept der | |
| Bürgerversicherung seit 2009 endlich auch eine klare Zielvorstellung. | |
| Sich mit Beck treffen ist wie eine Audienz haben, also: nicht beim Papst, | |
| weniger förmlich, aber da ist dieses Gefühl eines privilegierten Zugangs. | |
| Viele BremerInnen lieben es, wie Beck sie an ihren ja tatsächlich | |
| weltbewegenden Themen teilhaben lässt: Seit Jahren schon lädt sie, | |
| ungewöhnlich genug, zu sich nach Hause, das Format beck@home ist eine Art | |
| großer, und sehr familiärer Brunch, zu dem jeder kommen darf, und sich | |
| eingebunden fühlen in die Solidargemeinschaft jener, die am Sturz des Zaren | |
| arbeiten. Und wie soll das vorangehen, wenn sie, Beck, nun abdanken müsste, | |
| also „in der russischen Botschaft würden die Sektkorken knallen“, raunt | |
| sie, und da hörst du fast schon die Krimskoje-Perlen bedrohlich brizzeln. | |
| Bald drauf wird sie exakt denselben Satz auch in die Radio Bremen-Kamera | |
| sagen, und das desillusioniert ein wenig. | |
| Aber gute politische Kommunikation funktioniert genau so, über Formeln, die | |
| präzise und plastisch etwas benennen. Klar sei auch sie ersetzbar, sagt | |
| Beck „das muss ja so sein“, aber sie ist dann doch auch relativ diese | |
| Ersetzbarkeit: Natürlich sorgt sich auch die Grüne Viola von Cramon aktiv | |
| um die Menschenrechte in Weißrussland und in der Ukraine, „aber die muss | |
| sich ja auch noch um China kümmern“, sagt Beck. Die Tingeltour durch die | |
| Untergruppierungen der Bremer Grünen nennt sie Primaries, „Ich sag immer | |
| Primaries“, sagt sie, obwohl die Kreisverbände kein Votum abgegeben habe. | |
| Aber es klingt halt schöner. Und es passt auch viel besser zur Unruhe. | |
| 9 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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