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# taz.de -- Geschlechtsneutrale Kindergärten: „Kinder sind gut so, wie sie s…
> Dürfen Jungs heulen? In Lotta Rajalins Kindergärten in Schweden schon.
> Dort werden Geschlechterrollen nicht verstärkt, sondern aufgeweicht.
Bild: Mädchen malen, Jungs toben rum? Nur, wenn sie in die gängigen Rollenbil…
sonntaz: Frau Rajalin, Sie waren die Erste, die in Schweden einen
Kindergarten mit geschlechtsneutraler Pädagogik gegründet hat. Sind Puppen
und Autos dort verboten?
Lotta Rajalin: Nein. Wir haben viele Puppen, eher männliche und eher
weibliche, Puppen mit verschiedenen Hautfarben, eine Puppe im Rollstuhl.
Die Kinder sollen die Vielfalt der Gesellschaft in ihrer Spielwelt
wiederfinden. Wir versuchen auch, verschiedenes Spielzeug zu mischen. Statt
hier den Toberaum und dort die Puppenstube gibt es in derselben Ecke
Puppen, Technik und Dinosaurier. Die Kinder müssen sich beim Spielen nicht
für das eine oder das andere entscheiden.
Sind die Bilder vom braven Mädchen und dem wilden Jungen nicht ohnehin
überholt?
Klar, Mädchen dürfen heute schon sehr wild und aktiv sein, aber – da ist
die Grenze – nicht so extrem wie die Jungen. Im Vergleich bekommen Mädchen
schneller eine psychiatrische Diagnose wie ADHS. Irgendwo wirkt immer noch
dieses Bild vom süßen, schüchternen, hilfsbereiten Mädchen und coolen,
mutigen, wütenden Jungen. Ein sensibler, schüchterner Junge kann sich da
sehr falsch fühlen. Der Punkt ist: Kinder wollen unbedingt Bestätigung von
Erwachsenen bekommen. Also versuchen sie, so zu sein, wie sie meinen, es
würde von den Großen anerkannt.
Wie kamen Sie auf die Idee einer explizit geschlechtsneutralen Pädagogik?
In Schweden schreibt der Bildungsplan von 1998 vor, stereotypen
Geschlechtsrollen entgegenzuwirken. Mein Team und ich, wir waren überzeugt,
Mädchen und Jungen gleich behandeln zu sollen. Um das zu testen, begannen
wir Ende der 90er Jahre ein Projekt und filmten den Alltag im Kindergarten.
Als wir uns die Filme ansahen, erschraken wir sehr, denn wir stellten in
unserem Umgang mit den Kindern große Unterschiede fest.
Welche denn?
Wir setzten beispielsweise voraus, dass Jungen einen größeren
Bewegungsdrang haben. Wenn wir mit der Gruppe nach draußen gingen, haben
wir deshalb zuerst den Jungen beim Anziehen geholfen. So lernten die
Mädchen zu warten. Bei Gruppentreffen mit den Kindern haben wir den Jungen
schneller und öfter das Wort gegeben, weil wir sonst Streit befürchteten.
Wieder mussten die Mädchen lernen, zu warten. Dagegen haben wir die Mädchen
länger getröstet, wenn sie hingefallen waren – fast zu lange. Und wir haben
sie öfter ermahnt, still zu sitzen. Wir haben unbewusst Geschlechterrollen
verstärkt.
Wie verhalten Sie sich heute?
Unser größtes Ziel ist es, an uns selbst zu arbeiten. Mit der Sprache haben
wir angefangen. Statt der geschlechtsspezifischen Pronomen „er“ und „sie�…
verwenden wir die Namen der Kinder. Wir rufen nicht mehr: Kommt her, Mädels
und Jungs – sondern nennen die Gruppe „Freunde“ [das schwedische kompisar
ist ein geschlechtsneutrales Wort; Anm. d. Red.]. Wir sagen „Legofiguren“
statt „Legomännchen“, „Müllabholer“ statt „Müllmänner“.
In Schweden gibt es das geschlechtsneutrale Pronomen hen als Alternative
für han, – also „er“ – und hon, was „sie“ bedeutet. Eine große De…
das Wort hen hat es vor Kurzem bis in die Abendnachrichten des
öffentlich-rechtlichen schwedischen Fernsehens geschafft. Einige warnten
vor einer radikalfeministischen Sprachpolizei. Gilt in Ihren Kindergärten
das „hen-Gesetz“?
Manche ErzieherInnen benutzen hen, manche nicht. Die Kinder dürfen sowieso
sprechen, wie sie wollen, wir korrigieren sie nie. Wir wollen nicht die
Kinder ändern. Sie sind gut so, wie sie sind. Wir Erwachsene haben die
Macht, wir müssen uns verändern. Wir versuchen, geschlechtsneutral zu
reden, um unser Bewusstsein zu schulen.
Abgesehen von der eigenen Sprache: Zensieren Sie auch die Bilderbücher?
Wir betrachten die Bücher sehr gründlich, stellen gleich viele Bücher mit
männlichen und weiblichen Hauptrollen ins Regal. Wenn wir eine Geschichte
über Raumfahrt erzählen, sprechen wir lieber von einer weiblichen
Astronautin. Die Kinder hören schon überall sonst von männlichen
Astronauten, da wollen wir einen Ausgleich schaffen. Auch auf den Bildern
an den Wänden zeigen wir gleich viele Männer und Frauen, und Kinderlieder
kann man leicht ein bisschen umschreiben, damit sie nicht nur von Männern
handeln.
Es gab viel Kritik an dem Kindergarten Egalia, den Sie 2010 eröffnet haben,
sogar Drohungen. Warum fühlen sich die Leute so provoziert?
Ich denke, diese Leute haben Angst und sind verunsichert. In zwei
Geschlechter einzuteilen, ist man gewohnt. Wir hinterfragen das, machen
mehr Varianten möglich, das ist schwerer und kann verschrecken. Viele haben
falsche Vorstellungen von unserem Alltag, sie denken etwa, wir würden den
Kindern eine geschlechtsneutrale Sprache aufzwingen. Im Kindergarten
Nicolaigården gilt das geschlechtsneutrale Prinzip seit zehn Jahren, aber
erst Egalia bekam große Aufmerksamkeit. Sicher wegen seiner deutlichen
Ausrichtung, schon im Namen. Gerade erlauben wir keinen Besuch von außen,
wir müssen uns von den Medien ausruhen.
Wie ist die Nachfrage nach Ihren Plätzen?
Es gibt lange Wartelisten. Viele Familien in Stockholm wünschen sich für
ihre Kinder ein vielfältiges, demokratisches Umfeld. Besonders
gleichgeschlechtliche Eltern wählen unsere Kitas gern, weil hier niemand
komisch nachfragt. Wir haben auch viele Familien mit ausländischem
Hintergrund, sie wissen, dass wir ihnen mit Offenheit begegnen.
Entwickeln sich Ihre Kinder anders als Kinder in gewöhnlichen Kitas?
Unsere Kinder haben ein starkes Selbstwertgefühl und achten auf sich
selbst. Sie trauen sich, Nein und auch Stopp zu sagen, und sie sind weniger
fixiert auf das, was ihre FreundInnen tun. In anderen Kindergruppen
klammern sich Mädchen oft an eine einzige beste Freundin, bei uns spielen
die Kinder eher zu mehreren gemeinsam, Jungen und Mädchen gemischt. Unsere
Jungen weinen mehr, und die Mädchen sind wilder – alle sind sie irgendwie
freier.
Verunsichert es die Kinder denn nicht, wenn sie dann aus dem Kindergarten
rauskommen in die heteronormative Welt?
Das können wir ihnen zutrauen. Kinder können verstehen, dass es an
unterschiedlichen Orten andere Mentalitäten gibt – wie bei einer Reise in
eine andere Kultur. Wenn sie in die Schule kommen, stellen sie vielleicht
fest: Aha, in Egalia war das so und so, und hier ist es anders, aber ich
weiß, dass ich gut bin, so wie ich bin.
23 Nov 2012
## AUTOREN
Mareike Zoege
## TAGS
Kindergarten
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Pädagogik
Investment
Kitaplätze
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Studium
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