# taz.de -- Deutsche Literatur in Großbritannien: Sprechen Sie vom Krieg! | |
> Wie kommt deutsche Gegenwartsliteratur nach Großbritannien? Zum Beispiel | |
> durch die hartnäckige Vermittlungsarbeit kleiner Verlage. | |
Bild: Kleine Verlage machen viel Arbeit | |
Die gute Nachricht für Verfechter des Literaturimperialismus: | |
deutschsprachige Bücher haben einen festen Platz im Kanon der britischen | |
Leser. Kafka, Hesse, Stefan Zweig und Robert Walser sind sehr präsent in | |
britischen Regalen und werden immer noch übersetzt. Insgesamt aber ist | |
Deutschland nicht gerade Weltmeister im Literaturexport. | |
Um dem üblichen Händeringen gleich vorzubeugen: Das liegt weniger an der | |
deutschsprachigen Literatur als an der britischen Leserschaft, die sich | |
nicht sonderlich für Fremdes interessiert. Dass es ein Promi-Kochbuch war, | |
das E. L. James’ Megaseller „Fifty Shades of Grey“ endlich vom | |
Bestsellerthron schmiss, sagt viel darüber, wo die Briten ihre Bücher | |
kaufen – nämlich seit einigen Jahren bevorzugt im Supermarkt. | |
Gehen wir also davon aus, dass der gemeine Brite herzlich wenig Interesse | |
an Belletristiktiteln hat und Bücher aus anderen Ländern noch weniger | |
spannend findet. Das macht die meisten Verlage im Land vorsichtig, wenn es | |
um Übersetzungen geht. Eine häufig zitierte Statistik besagt, dass nur drei | |
Prozent aller Titel in der englischsprachigen Verlagswelt Übersetzungen | |
sind. Allerdings weiß niemand so recht, worauf diese Zahl beruht. | |
In Großbritannien führt niemand Buch über eingekaufte Lizenzen; in den USA | |
stellt das Blog Three Percent jährlich eine Liste der Erstübersetzungen aus | |
allen Sprachen im Bereich Belletristik zusammen. Im Jahr 2011 waren es 371 | |
Titel, weit unter drei Prozent; in Großbritannien, dem kleineren Markt, | |
wird die Zahl geringer sein. Laut Börsenverein des deutschen Buchhandels | |
sind 2011 jedenfalls 121 Lizenzen in allen Sparten von Deutschland nach | |
Großbritannien verkauft worden. Der Hauptpfeiler der Übersetzungsförderung, | |
das Goethe-Institut, unterstützte neun Bücher im Belletristikbereich, die | |
Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia drei. | |
## Babyboomer mit Backsteinregalen | |
Das war tatsächlich mal anders. Deutschsprachige Emigranten im Verlagswesen | |
und ein Interesse an kultureller Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg | |
brachten den Londoner Verlagshäusern eine Vielzahl europäischer Autoren. | |
Man stelle sich die Babyboomer mit Backsteinregalen voller Heinrich Böll, | |
Peter Schneider und Peter Handke vor. Und es ist diese Autorengeneration, | |
die dort immer noch das Bild der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur | |
prägt – sofern der Einzelne überhaupt ein solches Bild vor Augen hat. | |
Denn laut Jonathan Ruppin von der hervorragenden Londoner Großbuchhandlung | |
Foyles kaufen Leser deutsche Bücher nicht, weil sie deutsch sind. „Die | |
meisten deutschsprachigen Autoren, die sich gut verkaufen, sind Klassiker. | |
Die deutsche Kultur insgesamt ist einfach kein Verkaufsargument für Bücher | |
in Großbritannien. Wir sehen kein ähnliches Interesse wie zum Beispiel an | |
Italien, Frankreich, Spanien oder Russland. Jedes Buch aus Deutschland, das | |
sich gut verkauft, muss das aufgrund seiner eigenen Stärken tun.“ | |
Und welche Gegenwartsautoren verkaufen sich? Ruppin listet einige auf: | |
Jenny Erpenbeck, Günter Grass, Daniel Kehlmann, Patrick Süskind, Bernhard | |
Schlink, Ferdinand von Schirach, Peter Stamm. Bezeichnenderweise sagt er | |
auch, dass im Bereich Sachbuch Weltkriegsthemen der Renner sind. Hier merkt | |
der geneigte Leser, dass auch viele der gut gehenden Romane sich um | |
Historisches drehen: Erpenbecks „Visitation“ exerziert die Geschichte eines | |
Brandenburger Hauses im 20. Jahrhundert durch, Schlink bricht laut Guardian | |
Tabus in der Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit, Kehlmann geht in | |
seinem großen Hit „Measuring the World“ zeitlich noch weiter zurück. | |
Britische Leser fühlen sich anscheinend auch bei deutschen Büchern im | |
vertrauten Gefilde des historischen Romans wohl. Und gern mit ein paar | |
Nazi-Bösewichten dazu. Ein kleiner Tipp für exportwillige Schriftsteller, | |
mit Dank an Basil Fawlty: Do mention the war. | |
Der große Ausnahmeautor, der genau das auf eine unnachahmliche und subtile | |
Art getan hat, ist W. G. Sebald. Die Briten halten ihn für einen der ihren; | |
schließlich lebte er jahrelang als Germanist in Norwich und baute das | |
dortige British Centre of Literary Translation auf. Mitunter staunen | |
britische Leser, dass er auf Deutsch geschrieben hat. Bei einem Besuch in | |
der Unibuchhandlung in Norwich (mittlerweile eine Filiale der dominanten | |
Waterstones-Kette) lernt man, dass Touristen aus aller Welt kommen, um in | |
Sebalds Fußstapfen die Küste entlangzupilgern. Und der Glanz wird | |
inzwischen zurückgeworfen, zeigen doch gerade jüngere deutschsprachige | |
Autoren auf der formalen Ebene einen Sebald’schen Einfluss: Thomas von | |
Steinaecker, Clemens J. Setz und Judith Schalansky zum Beispiel. | |
Wie sollen diese Jungen aber aus dem Schatten der früheren Generationen | |
treten? Vielleicht mithilfe der kleineren Verlage, die sich in | |
Großbritannien jetzt verstärkt um internationale Literatur kümmern. Erste | |
Schritte sind gemacht. Anfang Oktober riefen Kritiker der FAZ einen neuen | |
Kanon der unter Vierzigjährigen aus. Und siehe da: von den zwanzig | |
Jungspunden sind tatsächlich acht mittlerweile ins Englische übersetzt | |
(Daniel Kehlmann, Alina Bronsky, Helene Hegemann, Thomas Pletzinger, Thomas | |
Glavinic, Uljana Wolf, Judith Schalansky, Clemens Meyer). Es stellt sich | |
die Frage nach Ursache und Wirkung – gelten diese Autoren hier als | |
arriviert, weil man sie auf Englisch lesen kann, oder werden sie dort | |
übersetzt, weil sie stark schreiben? | |
## Ein Büro in Kalkutta | |
Mit bitter benötigter Unterstützung der nationalen Kulturstiftungen nehmen | |
gerade kleine und unorthodoxe Verlage das Risiko auf sich, neue | |
internationale Literatur auf den Markt zu bringen. Mit Büros in Kalkutta | |
und London verlegt Seagull Books eine Vielzahl von deutschsprachigen | |
Belletristiktiteln auf Englisch und vertreibt sie weltweit. Die Autoren | |
sind eine ungewöhnliche Mischung, denn sie werden hauptsächlich von | |
Übersetzerinnen vorgeschlagen: Esther Kinsky, Ralf Rothmann, Inka Parei, | |
Dietmar Dath, Urs Widmer. Dieser Eklektizismus ist es aber, dem Seagull | |
seinen bisher größten Coup verdankt – von Kalkutta aus verlegen sie den | |
nächsten englischsprachigen Titel des Nobelpreisträgers Mo Yan. | |
In Berlin hingegen sitzt der brandneue E-Buch-Verlag Frisch & Co, der | |
nächstes Jahr englische Versionen zweier Romane von Uwe Tellkamp und Anna | |
Kim herausbringt. Ebenfalls in Berlin trifft sich eine Gruppe von | |
Leserinnen, die dem englischen Kleinverlag And Other Stories zuarbeitet. | |
Mit einer Art Crowdsourcing für den Selektionsprozess versucht dieser | |
Asterix unter den britischen Verlagen, geeignete fremdsprachige Titel für | |
die Übersetzung auszuwählen und nebenbei die Auswahl ihrer Bücher zu | |
demokratisieren. | |
Durch liebevolle Begleitung ihrer Autoren – unter anderem Clemens Meyer und | |
der Schweizer Christoph Simon – machen sie ein Stück weit wett, was ihnen | |
an Werbebudget fehlt. Der erste original englischsprachige Roman bei And | |
Other Stories, Deborah Levys „Swimming Home“, kam dieses Jahr auf die | |
Shortlist für den Booker Prize. Das wirkte wie ein Ritterschlag für dieses | |
unkonventionelle Verlagshaus, das aus dem Dunstkreis des British Centre of | |
Literary Translation hervorgegangen ist. | |
Wie auch der Zweifrauverlag Peirene Press, der sich ausschließlich auf | |
kurze europäische Belletristiktitel konzentriert, arbeitet And Other | |
Stories verstärkt mit einer weiteren wachsenden Kraft in Großbritannien | |
zusammen: den Lit-Bloggern. Begeisterte Leser mit einem Herz für Underdogs | |
besprechen Autoren, die von der Presse übersehen werden, führen Interviews | |
oder lesen Bücher zu bestimmten Schwerpunkten – wie im „German Literature | |
Month“, einer Initiative von zwei Bloggerinnen. | |
Peirene Press, von der in London ansässigen Deutschen Meike Ziervogel | |
gegründet, schreibt regelmäßig Rundbriefe an Blogger, bietet | |
Rezensionsexemplare an, veranstaltet Schreibwettbewerbe und belebt außerdem | |
die Tradition des Salonabends – ganz analog mit Kartoffelsalat und Käse. Zu | |
den Autoren gehören F. C. Delius und Birgit Vanderbeke – ein weiteres | |
Beispiel dafür, dass die Kleinen die ganz großen Namen für sich gewinnen | |
können, wenn die Global Players nicht mitspielen. | |
Man muss sich das Leben einer der wenigen des Deutschen mächtigen | |
Lektorinnen bei einem dieser Riesenhäuser dagegen als recht frustrierend | |
vorstellen. Wozu sich jeden Tag schick machen und die quälende U-Bahn-Fahrt | |
auf sich nehmen, wenn man doch keine deutschsprachigen Bücher verlegen | |
kann? Anna Kelly arbeitet bei Hamish Hamilton im Hause Penguin. „In den | |
letzten paar Jahren habe ich einige Sachen gelesen, die mich für das | |
begeistert haben, was im Moment auf Deutsch geschrieben wird, die ich aber | |
trotzdem nicht verlegen konnte.“ | |
Zum Glück hat Hamish Hamilton längst die Vorzüge des Internets für sich | |
entdeckt und gibt eine Online-Literaturzeitschrift heraus. Am 3. Dezember | |
kommt Anna Kellys Baby: eine Sonderausgabe von Five Dials mit 13 | |
deutschsprachigen Gegenwartsautoren, von Juli Zeh bis Ulrike Almut Sandig. | |
„Das ist ein Weg für mich, einige dieser starken Stimmen mit der Welt zu | |
teilen. Zahlreiche Autoren schreiben gerade wunderbare Sachen auf Deutsch, | |
aber diese Ausgabe kann nicht mehr als eine Handvoll davon zeigen.“ Hoffen | |
wir, dass ihre Begeisterung ansteckend wirkt. | |
28 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Katy Derbishire | |
## TAGS | |
deutsche Literatur | |
Großbritannien | |
Buch | |
Verlagswesen | |
deutsche Literatur | |
Ferdinand von Schirach | |
Roman | |
Kriegsverbrechen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte um Schriftsteller W. G. Sebald: In dieser Prosa spukt es | |
Die englischsprachige Literaturwelt diskutiert aus Anlass einer neuen | |
Biografie über W. G. Sebald. Wie bedeutsam ist der Schriftsteller wirklich? | |
Das Theater als Gerichtssaal: Alles nur ein Spiel | |
Nicolai Sykoschs Inszenierung von Ferdinand von Schirachs „Terror“ findet | |
in Braunschweig nicht mehr aus einem verwirrenden Anfang heraus. | |
Booker-Prize-Nominierte aus Afrika: Der Zauber der „Müllentsorgung“ | |
Mit NoViolet Bulawayo ist erstmals eine schwarze Afrikanerin für den Booker | |
Prize nominiert worden. Ihr Roman handelt vom Leben zwischen zwei Ländern. | |
Roman über NS-Verbrecher in Argentinien: Der Nazi und das Mädchen | |
Roadtrip durch Argentinien in die dunkelste Vergangenheit der Deuschen: In | |
dem Roman „Wakolda“ begibt sich die Autorin Lucía Puenzo auf die Suche nach | |
Josef Mengele. |