# taz.de -- Neuer Film von François Ozon: Die Kunst, kein Held sein zu wollen | |
> Der französische Regisseur François Ozon hat einen neuen Film gemacht. | |
> „In ihrem Haus“ erzählt von einem seltsamen Lehrer-Schüler-Verhältnis. | |
Bild: Claude (Ernst Umhauer) träumt sich ins Ehebett von Esther (Emmanuelle Se… | |
Wer den Lycée-Lehrer Germain (Fabrice Luchini) in grünlich-beigen Cordhosen | |
und notorischer Genervtheit über den Schulhof gehen sieht, würde ihn wohl | |
eher nicht zum Helden einer Geschichte küren. Zu bieder und zu berechenbar | |
erscheint er, wie er da mit Überdruss im Gesicht den neuesten | |
Reformankündigungen des Direktors lauscht (es werden Schuluniformen | |
eingeführt) oder sich über die lausigen Aufsätze seiner Schüler empört. | |
Von wegen, die Invasion der Barbaren stünde noch bevor – sie füllten längst | |
die Klassenzimmer, klagt er abends vor seiner stets skeptischen Gattin | |
Jeanne (Kristin Scott Thomas). Zum Beweis liest er ihr aus den Aufsätzen | |
vor. Und macht eine überraschende Entdeckung. | |
Germains Schüler Claude (Ernst Umhauer) dagegen taugt schon eher zum | |
Helden, zum Beispiel dem eines klassischen Bildungsromans: ein sensibler | |
16-Jähriger auf der Suche nach Erfahrungen, die ihn zum Mann machen oder | |
zum Schriftsteller, am besten natürlich beides. Es ist sein Aufsatz, der | |
Germain und seine Frau gleichzeitig aufmerken lässt und der in François | |
Ozons neuem Film „In ihrem Haus“ ein Spiel in Gang setzt, in dem sich | |
Realität und Fiktion eine Art Hase-und-Igel-Rennen liefern. | |
Zu den großen visuellen Spektakeln des auslaufenden Kinojahres, zu | |
„Wolkenatlas“ oder den noch kommenden „Life of Pi“ und „Der Hobbit“… | |
Ozons Film ein wichtiges Gegenstück, zeigt er doch, dass auch die schnöde | |
2-D-Projektion sich in einer dritten Dimension entfalten kann – wenn man | |
den Kopf des Zuschauers mitrechnet. „In ihrem Haus“ spielt mit Oberfläche | |
und Oberflächlichkeit, aber eben nicht im wörtlichen, sondern im | |
übertragenen Sinn. Auf der Leinwand kommt der Film zunächst als bewusst | |
flache Komödie mit mokanten Obertönen daher, beim mitdenkenden Zuschauer | |
aber löst sie bald ein wahres Feuerwerk an Denkanstößen aus über die Geburt | |
des Geschichtenerzählens aus dem Geist des Voyeurismus. | |
Denn Claude schildert in jenem Aufsatz, der sowohl Germain als auch dessen | |
Gattin augenblicklich fesselt, er sei endlich in das Haus eingedrungen, das | |
er einen Sommer lang schon von einer Parkbank aus beobachtet habe. Es | |
handelt sich um das Zuhause seines Klassenkameraden Rapha (Bastien | |
Ughetto), dem er nun bei den Mathematikhausaufgaben helfen darf. Claude | |
erzählt, wie er geschickt den Gang zur Küche nützt, um sich im Haus | |
umzusehen, wobei seine besondere Neugier der Mutter (Emmanuelle Seigner) | |
gilt. In ihren Sachen macht er den typischen „Duft der Mittelschichtsfrau“ | |
aus. | |
Sein Aufsatz bricht ab und ist unterschrieben mit „Fortsetzung folgt“. | |
Lehrer Germain und Gattin sind augenblicklich angefixt. Und ihre Figuren | |
spiegeln zwei ganz unterschiedliche Rezeptionshaltungen. Während Jeanne | |
sich vom Inhalt so skandalisiert wie intrigiert zeigt, ist es bei Germain | |
Claudes Stil, der Eindruck hinterlässt. Germain, der selbst einst | |
literarische Ambitionen pflegte, beschließt, diesem aufstrebenden | |
Erzähltalent zu helfen und Claude fortan nach dem Unterricht Lektionen über | |
das Schreiben – und Lesen – zu erteilen. Außerdem ermutigt er ihn zu | |
weiteren Besuchen im Haus des Freundes. | |
## Kleine Varianten | |
Gleich in der ersten Stunde stellt der Lehrer seinem Schüler die | |
Grundfrage: Schilderst du wirklich nur das, was du siehst, oder | |
transformierst du es im Prozess? Und wie um das literarische Argument stark | |
zu machen, zeigt der Film wieder und wieder Claudes Erlebnisse im Haus | |
seines Klassenkameraden – mit immer wieder kleinen Varianten in Stil und | |
Ton. Wo der Zuschauer zu Anfang noch glaubt, die „reale“ von der | |
fiktionalen Ebene klar unterscheiden zu können, verwischen sich nach und | |
nach die Grenzen. | |
Claude ist alles andere als ein verlässlicher Erzähler. Mal gerät ihm | |
Raphas Mutter zur gelangweilten traurigen Hausfrau mit Anklängen zu Madame | |
Bovary, mal macht er aus dem Vater-Sohn-Paar eine kleine Satire auf den | |
Mittelschichtsmann, mal erzählt er vom eigenen Begehren für die Mutter und | |
mal von Raphas Begehren für ihn, Claude. Und Mal für Mal kritisiert Lehrer | |
Germain die eine Variante als Kitsch, die nächste als witzlos und stellt | |
die Grundfragen: Was will die Figur, was will der Erzähler? | |
Zwischendurch glaubt man sich in „In ihrem Haus“ fast in einem | |
Drehbuchseminar, so gründlich werden hier Geschichten auf ihre Struktur | |
abgeklopft. Wobei der Film auch unter die Lupe nimmt, wie die Fiktion aufs | |
Leben zurückschlägt. Den biederen Germain treibt die Aussicht auf eine | |
Fortsetzung der Erzählung dazu, Risiken einzugehen, die man ihm Anfangs nie | |
zugetraut hätte. Wie überhaupt in den immer burlesker werdenden | |
Überlappungen der Ebenen sich nach und nach herausstellt, dass doch der | |
Lehrer und nicht der Schüler der eigentliche Held dieses Films ist. | |
Das mag zum einen auch an den Darstellern liegen: Gegen einen Fabrice | |
Luchini, der in Hochform hier Sprödigkeit mit Leidenschaft zu verbinden | |
weiß, kann der erst 22-jährige Ernst Umhauer nur blass wirken. Zumal | |
Luchini von Kristin Scott Thomas als Gattin mit perfektem Timing flankiert | |
wird. Andererseits zeigt Ozon in seiner Schlussszene, in der seine zwei | |
Hauptfiguren zusammen von einer Parkbank aus auf die Wohnungen im Haus | |
gegenüber blicken, dass die Kunst des Erzählens vielleicht gerade darin | |
liegt, kein Held sein zu wollen. | |
29 Nov 2012 | |
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