| # taz.de -- Konzert Scritti Politti: Die Dissonanz ist beabsichtigt | |
| > Lange litt die Waliser Band Scritti Politti unter Bühnenangst. Jetzt | |
| > überzeugte sie beim Konzert in Berlin – vor einem behäbigen Publikum. | |
| Bild: Gut gehalten: Green Gartside. | |
| Das Konzert von Scritti Politti beginnt mit ihrem überwältigenden Song „The | |
| Sweetest Girl“, erschienen auf dem Debütalbum „Songs to remember“ (1982). | |
| Ein gemächlich gondelndes, aber heller als die Sonne strahlendes Stück | |
| Popreggae mit den Zeilen „The weakest links in any chain /Always want to | |
| find it / The strongest words in each belief / Find out what’s behind it.“ | |
| Er sei 1978 Mitglied der Jugendorganisation der britischen KP gewesen, | |
| erklärt Scritti-Sänger und -Gitarrist Green Gartside hinterher, einen Song | |
| über ein Mädchen zu schreiben, war damals so ungefähr der größte | |
| Widerspruch. | |
| Gut hat sich Green Gartside gehalten, er sieht nicht aus, wie man es von | |
| einem 56-Jährigen erwarten würde. Verwaschene Jeansjacke und -hose, | |
| farblich abgestimmt. Der Bart akkurat, die Augen wach. Gartside singt | |
| sauber, zum Glück nicht porentief rein. Lange Jahre war das unmöglich | |
| gewesen, da wurde der Waliser von Bühnenangst geplagt. | |
| Scritti Politti veröffentlichten in den achtziger Jahren zwar auf einem | |
| Majorlabel State-of-the-Art-Produktionen, live trat die Band jedoch nicht | |
| in Erscheinung. Der letzte Gig in Deutschland liegt 33 Jahre zurück. 1999 | |
| und 2006 kamen zuletzt neue Alben von Scritti Politti heraus. | |
| ## Ärsche wackeln zögerlich | |
| Jegliche Last der Geschichte scheint am Donnerstagabend auf der Bühne des | |
| Berliner HAU weggewischt. Stattdessen ist ein Musiker zu erleben, der von | |
| einer dreiköpfigen Band kongenial in Szene gesetzt wird und die Fallstricke | |
| seines Popdaseins geradezu lustvoll ausagiert. „Den nächsten Song habe ich | |
| geschrieben, als die Finanzkrise ausbrach. Erwarten Sie keine | |
| Lösungsvorschläge von mir, aber einen einprägsamen Refrain und einen Beat, | |
| der in die Füße geht.“ | |
| Können es die Zuschauer mit ihrem Gewissen vereinbaren, nun zu tanzen? | |
| Selten hat man so eine Behäbigkeit bei einem Konzert erlebt, so viel | |
| ehrfürchtige Stille zwischen den Songs. Gartside flüstert sarkastisch zu | |
| seinem Gitarristen, „bei dir alles klar?“ Liegt es am fehlenden | |
| Getränkeausschank im Theater? Bis Gartsides Botschaft endlich ankommt und | |
| das Publikum aufhört, passiv zu sein, und anfängt, mit dem Arsch zu | |
| wackeln, sind Scritti Politti schon zwei Songs weiter. | |
| Das HAU ächzt schon, so hoch ist der IQ. im Raum. Bildende Künstler sind | |
| unter den Zuschauern, Musiker, wie der Brite Robyn Hitchcock, Justus | |
| Köhncke und Eric D. Clark von Whirlpool Productions, namhafte | |
| PopautorInnen, aber auch die gesamte Redaktion von Texte zur Kunst. | |
| Vielleicht wäre ein autonomes Jugendzentrum als Location auch ganz passend | |
| gewesen. | |
| ## Untrennbar mit dem Diskurs verbunden | |
| Scritti Politti spielen Songs aus allen Phasen ihrer Karriere, darunter | |
| „Skank Bloc Bologna“ von ihrer Debütsingle von 1979. „Die Dissonanz ist | |
| beabsichtigt“, schickt Gartside voraus. Damals, als die Band in einem | |
| besetzten Londoner Haus wohnte, keiner von ihnen ein Instrument spielen | |
| konnte, aber ein Prinzip der Künstlergruppe Art&Language auf den Postpunk | |
| anwandte, wonach die künstlerische Praxis untrennbar mit dem sie umgebenden | |
| Diskurs verbunden ist. | |
| Inzwischen ist Green Gartside sehr pedantisch, was die Klangverhältnisse | |
| seiner Musik angeht, immer wieder moniert er bei der P.A., sein Gesang sei | |
| zu leise. Als Popstar mag er gescheitert sein, aber nicht als Individuum, | |
| das dieses Scheitern reflektiert. Er stimmt „Tinseltown to the Boogiedown“ | |
| von dem Album „Anomie & Bonhomie“ an und übernimmt kurzerhand die | |
| Gesangsparts der damals ihn unterstützenden Musiker Me’shell Ndegeocello | |
| und Mos Def. | |
| „Was für eine Vorstellung, ein mittelalter Weißer, der rappt“, sagt der | |
| Sänger. Trotzdem, wenn Melodiefolgen töten könnten, sie klängen wie die von | |
| Green Gartside. Das Konzert ist fast vorüber, da bequemt sich auch das | |
| Publikum und applaudiert, so dass Scritti Politti eine weitere Zugabe | |
| geben. Das gute Ende eines so denkwürdigen wie merkwürdigen Abends. | |
| 30 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
| Julian Weber | |
| ## TAGS | |
| Konzert | |
| Pop-Underground | |
| Postpunk | |
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