# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Wiedersehen in Fukushima | |
> Das aktuelle Treffen der internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) | |
> findet an einem symbolträchtigen Ort statt. | |
Bild: Radioaktive Belastung pro Stunde: 10.000 Millisievert. | |
Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO, englisch IAEA) hat ihren | |
Sitz in Österreich. Das Internationale Zentrum Wien ist ein gigantischer, | |
mit Stacheldraht umzäunter UN-Komplex, der in den 1970er Jahren zwischen | |
Donau, Hochbahn und einem Autobahnkreuz errichtet wurde. | |
In einem flachen, teilweise fensterlosen Konferenzbau berieten sich vor | |
drei Monaten Politiker und Experten über das Thema „Schutz vor extremen | |
Erdbeben und Tsunamis nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima | |
Daiichi“. | |
Vor dem diplomatischen Corps und einem kleinen Heer angereister Experten | |
begrüßte der Japaner Yukiya Amano, seit 2009 Generaldirektor der IAEO, die | |
Delegierten aus den 153 Mitgliedstaaten. Im Vorfeld hatten viele Minister, | |
Beamte der nationalen Atombehörden, Vertreter der Atomindustrie und | |
Strahlenschutzexperten ihre Sorge geäußert, dass der Unfall in Japan den | |
neuen Aufstieg bremsen könnte, den die Atomenergie seit der | |
Jahrtausendwende genommen hat. | |
Jetzt erklärte Amano ganz unbeirrt, man stehe am Beginn „einer neuen Ära“, | |
in der die IAEO die Sicherheitskriterien für Atomkraftwerke verschärfen und | |
international durchsetzen werde. | |
## | |
Die Organisation hatte seit der Katastrophe vom Juni 2011 eine Reihe von | |
beschwichtigenden Pressemitteilungen zur Lage in den sechs Reaktoren des | |
AKWs Fukushima veröffentlicht, die sämtlich auf Informationen des | |
Kraftwerkbetreibers Tepco (Tokyo Electric Power Company) und der | |
japanischen Atomaufsichtsbehörde Nisa (Nuclear and Industrial Safety | |
Agency) beruhten. | |
Einerseits Überwachung, andererseits Förderung der Atomenergie – diese | |
paradoxe Mixtur ist die politische Essenz der Internationalen | |
Atomenergiebehörde. | |
Ziel der Organisation ist es nach Artikel 2 ihres Statuts, „in der ganzen | |
Welt den Beitrag der Atomenergie zum Frieden, zur Gesundheit und zum | |
Wohlstand zu beschleunigen und zu steigern. Die Organisation sorgt im | |
Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür, dass die von ihr oder auf ihr Ersuchen | |
oder unter ihrer Überwachung oder Kontrolle geleistete Hilfe nicht zur | |
Förderung militärischer Zwecke benutzt wird.“(1) | |
## | |
Die Besetzung der leitenden IAEO-Positionen orientiert sich an der | |
Bedeutung der Atomwirtschaft der einzelnen Mitgliedsländer, wobei ein | |
gewisses Rotationsprinzip eingehalten wird. Anstoß zur Gründung der | |
Organisation gab die Rede „Atoms for Peace“, die US-Präsident Dwight | |
Eisenhower vor der UN-Generalversammlung 1953 gehalten hat. Sein | |
Schlüsselsatz lautete: „Die stärksten Zerstörungskräfte können in einen | |
Segen für die Menschheit umgewandelt werden.“ | |
„Atoms for Peace“, die friedliche Nutzung der Atomenergie, wurde zum Slogan | |
der IAEO, mit dem man die Schrecken der Bomben von Hiroshima und Nagasaki | |
vergessen machen wollte. Das setzte freilich voraus, dass sich militärische | |
und zivile Nutzung der Atomenergie voneinander trennen lassen. Joseph | |
Rotblat, der einzige Physiker, der sich bereits vor der Zerstörung | |
Hiroshimas im August 1945 aus dem Manhattan-Projekt, dem Forschungsprogramm | |
zur Entwicklung der ersten Atombombe, zurückgezogen hatte, warnte jedoch: | |
„Die inhärente Verbindung der friedlichen und militärischen Aspekte der | |
Kernenergie und die Tatsache, dass es unmöglich ist, aus einem mit Uran | |
arbeitenden Reaktor Strom zu gewinnen, ohne zugleich Plutonium und damit | |
Material für Atomwaffen zu erzeugen, bedeutet letzten Endes, dass entweder | |
die Zivilisation zerstört wird oder man die auf Kernspaltung beruhende | |
Atomenergie aufgeben muss.“(2) | |
## | |
Die IAEO wurde 1957 gegründet. Damals träumten die Ingenieure von einer | |
Energiequelle, die so reichlich sprudelt, dass sie „too cheap to meter“ | |
sei: zu billig, als dass sich Stromzähler noch lohnen würden. Die Utopie | |
des Atomzeitalters schien zum Greifen nahe. Der IAEO wurde die Aufgabe | |
übertragen, alle Nationen an der segensreichen neuen Energie teilhaben zu | |
lassen, zugleich aber die globale Abrüstung zu überwachen. | |
Der Gesamtetat der Organisation belief sich 2012 auf 333 Millionen Euro, | |
das entspricht den Ausgaben der Stadt Wien für ihre Polizei. Da bleibt | |
natürlich zu wenig Geld für die Aufgabe, über die Weitergabe spaltbaren | |
Materials zu wachen. Für die gibt es auch nur 250 Inspektoren – bei einem | |
Gesamtpersonal von 2 200 Leuten –, die zudem nicht nur für die | |
Nuklearkontrolle zuständig sind. Diese finanziellen und personellen Mittel | |
stehen in keinem Verhältnis zu den Aufgaben: Die IAEO muss sich über den | |
Zustand von 429 aktiven und 145 stillgelegten Reaktoren in 31 Ländern | |
informieren(3) und etwa 42,2 Millionen Kubikmeter radioaktive Abfälle | |
(davon 338 000 Kubikmeter hochradioaktiv(4)) in den Kraftwerks- und | |
Zwischenlagern aller Atomstaaten(5) überwachen. | |
## | |
Theoretisch legt die IAEO die internationalen Normen für die | |
Strahlensicherheit fest, soll also Menschen vor Radioaktivität schützen, | |
Unfälle verhüten und Notfallpläne aufstellen. Aber da sie laut Satzung von | |
ihren Mitgliedstaaten abhängig ist, muss sie in der Regel den kleinsten | |
gemeinsamen Nenner suchen. Zudem ist kaum zu erwarten, dass sich | |
ausgerechnet Atombefürworter für Transparenz und eine angemessene | |
Information der Öffentlichkeit einsetzen. | |
Von der Organisation wird zwar stets betont, dass die für die Sicherheit | |
der Atomanlagen zuständigen Inspektoren unabhängig seien, aber es liegt auf | |
der Hand, dass Kontrolleure und Kontrollierte innerhalb des | |
IAEO-Sicherheitskonzepts eng zusammenarbeiten. So sieht es offenbar auch | |
der stellvertretende US-Energieminister Daniel Poneman: „Die | |
Atomkraftwerksbetreiber und die internationale Atomindustrie werden bei der | |
Vorbeugung und Behandlung von Unfällen weiterhin eine zentrale Rolle | |
spielen.“(6) | |
Im Gefüge der Vereinten Nationen stellt die IAEO eine Ausnahme dar. Keine | |
andere UN-Organisation unterstützt eine Industrie, von der sie zugleich so | |
stark abhängig ist. Deshalb dominieren bei der Entwicklung der Vorschriften | |
zur Überwachung der Atomenergie häufig wirtschaftliche Aspekte, damit die | |
Regeln nicht die Absatzchancen der Reaktorindustrie beeinträchtigen. | |
Entscheidend ist dabei auch, dass nur Staaten mit „fortschrittlichster | |
Atomtechnologie“ Mitglied im Gouverneursrat werden. | |
## | |
Das begünstigt insbesondere den Atomstaat Frankreich. So ist der | |
französische Atomexperte Denis Flory für die Abteilung für | |
Reaktorsicherheit verantwortlich. Seine Partner aufseiten der Industrie | |
sind ebenfalls Landsleute: An der Spitze des Weltverbands der | |
Atomkraftwerksbetreiber (WANO) steht Laurent Stricker, der beim | |
französischen Stromkonzern EDF Karriere gemacht hat. Und André-Claude | |
Lacoste, bis vor Kurzem Präsident der ASN in Paris, hat den Vorsitz bei der | |
Western European Nuclear Regulator’s Association (Wenra), dem | |
Beratungsgremium der westeuropäischen Aufsichts- und Genehmigungsbehörden. | |
Eisaku Sato, der ehemalige Präfekt der Region Fukushima, hat über eine | |
solche Organisationsform seine eigene Meinung: „Die Förderer der | |
Atomenergie und ihre Kontrolleure sitzen im derselben Behörde. Für mich ist | |
das eine Organisation, bei der Diebe und Polizisten zusammenarbeiten.“ | |
Vermutlich ist das der Grund, weshalb im Juni 2012 Gregory Jaczko, damals | |
Leiter der US-Reaktorsicherheitsbehörde Nuclear Regulatory Commission | |
(NRC), auf der Ministerkonferenz der IAEO verkünden konnte, dass kein | |
einziges der 104 US-amerikanischen Atomkraftwerke bei der jüngsten | |
Sicherheitsprüfung durchgefallen sei. Der kalifornische Reaktor Diablo | |
Canyon, der immerhin auf einer riesigen geologischen Verwerfungszone steht, | |
sei laut Jaczko sogar besonders lobend erwähnt worden. | |
Anders lässt sich auch nicht verstehen, warum die Stresstests der | |
europäischen Atomkraftwerke von den nationalen Aufsichtsbehörden | |
durchgeführt wurden, die sich in der atomindustrienahen Wenra organisiert | |
haben, und nicht etwa von einem Gremium unabhängiger europäischer Experten. | |
In der Praxis werden die Sicherheitsregeln also nach Bedarf gestrickt, in | |
einem Zirkel der Selbstbestätigung, um dann von der IAEO abgesegnet zu | |
werden. | |
## | |
Die allgemeine Devise, durchgehalten von Tschernobyl bis Fukushima, lautet | |
schlicht: Die Katastrophen werden auf die besondere Situation im jeweiligen | |
Land zurückgeführt und die strukturellen Probleme, die darin sichtbar | |
werden, unter den Teppich gekehrt. Tschernobyl 1986 konnte sich demnach nur | |
im Ostblock ereignen, und Fukushima hatte einfach das Pech, 2012 einem | |
Tsunami im Weg zu stehen. | |
Die IAEO arbeitet auch eng mit der Gruppe der nuklearen Lieferländer | |
(Nuclear Suppliers Group, NSG) zusammen, einem exklusivem Klub der Freunde | |
der Atomenergie, dem die 46 wichtigsten Länder angehören, die spaltbares | |
Material exportieren. Diese 1974 ins Leben gerufene informelle Gruppierung | |
setzt selbst die Kriterien fest, nach denen Staaten Ausrüstung und Material | |
für Atomanlagen exportieren dürfen. Damit soll die Verbreitung von | |
Atomwaffen eingeschränkt werden. 2008 stimmte die Gruppe jedoch einer | |
Ausnahme von ihren eigenen Regeln zu: Sie gestattete Indien den Import von | |
Nukleartechnologie aufgrund eines Abkommens mit den USA, obgleich das Land | |
den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat und damit die | |
Sicherheitsmaßnahmen der IAEO nicht vollständig akzeptiert. | |
Mohamed ElBaradei, der damalige IAEO-Generaldirektor (und | |
Friedensnobelpreisträger von 2005), war dennoch des Lobes voll: „Ich | |
betrachte das Abkommen als Gewinn für beide Seiten: für die Entwicklung des | |
Landes und für die Kernwaffenkontrolle. Es wird Indien den Zugang zur | |
westlichen Nukleartechnologie und damit auch zu den neuesten | |
Sicherheitstechniken eröffnen, und das ist ein wichtiger Aspekt, wenn man | |
den großen Umfang des indischen Atomprogramms betrachtet. Obgleich dieses | |
Abkommen nicht zwischen Mitgliedstaaten des Atomwaffensperrvertrags | |
geschlossen wurde, wird es Indien an die Regeln zur Nichtverbreitung | |
heranführen, da das Land Kontrollen der IAEO in seinen zivilen Atomanlagen | |
zulässt und der Gruppe der nuklearen Lieferländer beitreten wird.“(7) Das | |
Abkommen erwies sich als höchst lukrativ für die Atomindustrie, besonders | |
für Areva mit seinem Europäischen Druckwasserreaktor (EPR), für Toshiba und | |
für General Electric. | |
Artikel IV des Atomwaffensperrvertrags garantiert das „unveräußerliche | |
Recht“ der Mitgliedstaaten, die zivile Nutzung der Atomenergie | |
weiterzuentwickeln: „Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde | |
dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, | |
unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln | |
I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für | |
friedliche Zwecke zu entwickeln.“ Als Garantin der friedlichen Nutzung der | |
Kernenergie gerät die IAEO allerdings in eine zwiespältige Situation, denn | |
sie ist zugleich Überwacherin – und unfreiwillige Komplizin – der | |
weltweiten Verbreitung von Atomwaffen. Das Oak Ridge National Laboratory, | |
das dem US-amerikanischen Energieministerium untersteht, hat aufgrund von | |
eigenen Anreicherungssimulationen herausgefunden, dass jedes Land mit | |
Atomkraftwerken heimlich ausreichend Plutonium abzweigen kann, um jenseits | |
aller IAEO-Kontrollen eine Atombombe zu bauen. | |
## | |
Der Iran hat am 18. November 2011 sein erstes ziviles Atomkraftwerk | |
eingeweiht, nachdem der 1975 begonnene Bau eines Reaktors in Buschehr durch | |
den Krieg mit dem Irak (1980–1988) unterbrochen worden war. 1995 nahm die | |
russische Atomindustriebehörde Rosatom die Zusammenarbeit mit dem Iran | |
wieder auf: Zwischen beiden Staaten wurde unter Aufsicht der IAEO ein | |
bilaterales Abkommen ausgehandelt. | |
Nach einer von WikiLeaks veröffentlichten Depesche der Wiener US-Botschaft | |
vom 9. Juli 2011, unterzeichnet vom damaligen US-amerikanischen | |
IAEO-Delegierten Geoffrey Pyatt, bezeichnete der heutige japanische | |
Generaldirektor Yukiya Amano seinen Vorgänger, den Ägypter ElBaradei, als | |
einen „Vermittler“ zwischen dem Iran und der IAEO, während er sich selbst | |
als „unparteiisch“ einstufte und damit näher an die USA und Israel | |
heranrückte. Im Gegenzug erwartete Amano von den USA eine stärkere | |
finanzielle Unterstützung seiner Organisation. | |
In den letzten Monaten hat die IAEO ihre Pressearbeit zu den | |
Verdachtsmomenten gegen den Iran verstärkt. In einer Pressemitteilung vom | |
22. Februar 2012 äußerte sich Amano „enttäuscht“ darüber, dass der Iran… | |
IAEO-Kontrolleuren den Zugang zur Militäranlage Parchin verwehrt hatte. | |
Diese neue Linie liefert der Medienoffensive gegen das iranische Regime und | |
sein Atomprogramm frische Nahrung. Begleitet von der Leiterin der | |
Presseabteilung, die unser Gespräch Wort für Wort abschreiben lässt, | |
treffen wir einen Experten aus der Abteilung für Sicherheitsmaßnahmen, der | |
anonym bleiben soll. | |
Die Organisation, erklärt der Experte, arbeite „in einem Graubereich, wo es | |
sehr schwer ist, aus den immer größeren Datenmengen verlässliche | |
Informationen herauszufiltern“. Allein im Jahre 2010 hat die IAEO-Abteilung | |
für Nukleare Sicherheit 17 000 Berichte und Erklärungen verfasst, etwa 440 | |
000 Geschäfte mit spaltbarem Material dokumentiert, hunderte Stichproben | |
und 377 Satellitenbilder analysiert sowie 3 000 frei zugängliche Artikel | |
veröffentlicht.(8) | |
## | |
Der Physiker Abdul Q. Khan war 1974 in sein Heimatland Pakistan | |
zurückgekehrt. Dort hatte er der Regierung seine in den Niederlanden | |
erworbenen Kenntnisse über das Gaszentrifugenverfahren zur Urananreicherung | |
für den Bombenbau zur Verfügung gestellt. In der Folge baute er ein | |
weltweites Schmuggelnetzwerk (ElBaradei nannte es „atomarer Supermarkt“) | |
auf, über das sich Länder wie Libyen, der Iran und Nordkorea heimlich | |
Zentrifugen beschaffen konnten. In der IAEO-Datenbank zu illegalen | |
Nuklearexporten sind für den Zeitraum 1993 bis 2004 mehr als 650 Fälle des | |
Schmuggels von Atomtechnik verzeichnet. | |
Trotz der wachsenden Bedrohung durch die unkontrollierte Verbreitung | |
spaltbaren Materials konnte die IAEO keine Erweiterung ihres Mandats | |
erreichen; ihr wurden lediglich neue Kompetenzen und Mittel wie etwa | |
Zollkontrolleure zugestanden. Die Organisation fordert jetzt neue | |
Finanzmittel, um in der Lage zu sein, Informationen zur Verfolgung der | |
internationalen Nuklearmaterialhändler zu erwerben. Allerdings wird die | |
Arbeit der Inspektoren vor Ort von den jeweiligen Staaten unter Verweis auf | |
ihre Souveränität eingeschränkt. Nur der UN-Sicherheitsrat kann das Mandat | |
der IAEO erweitern – was zwischenzeitlich für die Inspektionen im Iran auch | |
geschehen ist. | |
In einem der y-förmigen Türme des Wiener Internationalen Zentrums sitzt der | |
1955 gegründete Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen über die | |
Auswirkungen atomarer Strahlung (United Nations Scientific Committee on the | |
Effects of Atomic Radiation, UNSCEAR). Sein Vorsitzender Wolfgang Weiss vom | |
deutschen Bundesamt für Strahlenschutz erklärt uns die Methode zur | |
Risikobewertung radioaktiver Strahlung für die Gesundheit des Menschen. Die | |
Strahlenbelastung biologischer Organismen wird in Sievert (Sv), benannt | |
nach dem schwedischen Physiker Rolf Sievert, gemessen. | |
## | |
In Frankreich und Deutschland liegt die maximale Belastung für | |
strahlenexponiertes Personal, etwa in der Atomindustrie oder der | |
medizinischen Radiologie, bei 20 Millisievert (mSv) pro Jahr. In | |
Deutschland darf man jedoch nicht mehr als 400 mSv über das gesamte | |
Berufsleben hinweg abbekommen. In Notfällen kann die zulässige Belastung | |
auf 100 mSv pro Jahr angehoben werden (in Fukushima wurde dieser Wert sogar | |
auf 250 mSv hochgesetzt). | |
Für die übrige Bevölkerung liegt die Obergrenze bei einem mSv pro Jahr. | |
Wolfgang Weiss meint jedoch, auch bei einer Jahresdosis bis 200 mSv bestehe | |
kein ernsthaftes Risiko: „Wir glauben an eine lineare Korrelation zwischen | |
Risiko und Strahlendosis, ohne Schwellenwert. 1 000 mSv pro Jahr bedeuten | |
ein Krebsrisiko von 10 Prozent, 100 mSv demnach nur 1 Prozent Risiko. Das | |
heißt, von 100 Arbeitern im Atomkraftwerk Fukushima, die einer Belastung | |
von 100 mSv pro Jahr ausgesetzt waren, wird einer an Krebs erkranken.“ | |
Wahrlich eine Rechnung von frappierender Schlichtheit. | |
UNSCEAR arbeitet daran, das Langzeitrisiko solcher „schwachen“ Dosen zu | |
verringern. In seinem Bericht für 2008 über die Auswirkungen von | |
Tschernobyl rechnete der Ausschuss vor, die Atomkatastrophe habe 6 000 | |
Fälle von Schilddrüsenkrebs verursacht, von denen aber nur 15 tödlich | |
verlaufen seien. Wolfgang Weiss erklärt, die Sterblichkeitsrate durch Krebs | |
sei in der Gegend rund um Tschernobyl nicht höher als ohne den GAU. Von den | |
530 000 Liquidatoren(9), die an der Kraftwerksruine gearbeitet haben, sind | |
laut UNSCEAR lediglich 28 durch überhöhte Strahlung gestorben. | |
## | |
Im UNSCEAR sind insgesamt nur vier Angestellte mit Unterstützung | |
auswärtiger Experten damit befasst, die Auswirkungen radioaktiver Strahlung | |
zu verfolgen und epidemiologische Studien anzufertigen. Der vertraulich | |
arbeitende Ausschuss wurde ursprünglich gegründet, um die Entwicklung des | |
Gesundheitszustands der Bombenopfer von Hiroshima und Nagasaki statistisch | |
zu erfassen. „Anhand dieser extrem starken Verstrahlung hat man die | |
schädigende Wirkung in Millisievert errechnet, diese Werte sollen für eine | |
dauerhafte Strahlenbelastung gelten. Für Atomkraftwerksunfälle sind solche | |
Strahlenschutzwerte jedoch nicht angemessen, denn deren Auswirkungen halten | |
länger an“, sagt Yves Marignac, der Leiter des unabhängigen | |
Energie-Informationsdienstes WISE-Paris. | |
Für Marignacs folgt daraus, dass die Strahlenschutzexperten seit 50 Jahren | |
die Langzeitfolgen dauerhafter Belastung unterschätzen: „Die internationale | |
Gemeinschaft hätte sich mit dieser Frage befassen müssen, aber sie hat sich | |
geweigert, weil ihr politischer Kurs mehrheitlich bereits feststand. Sie | |
will um jeden Preis einen Paradigmenwechsel in der Bewertung des | |
Dauerbelastungsrisikos vermeiden. Aber die Gesundheit der Menschen in den | |
kontaminierten Gebieten verschlechtert sich. Welche Rolle spielt dabei die | |
radioaktive Strahlung? Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat sich selbst | |
um die Mittel gebracht, das herauszufinden.“ | |
So fiel UNSCEAR die Aufgabe zu, die Studie über Strahlenschäden und | |
künftige Auswirkungen radioaktiver Strahlung in Fukushima zu erarbeiten. | |
Doch die Betroffenen müssen bis zur Publikation des Berichts im Mai 2013 | |
warten, um ein Gesamtbild der Strahlenbelastung von Lebensmitteln zu | |
gewinnen. | |
Der für Opfer von Atomkraftwerksunfällen und Atombomben lebenswichtige | |
Strahlenschutz hängt also stark von der Forschung ab. Deren Anspruch auf | |
Objektivität wird jedoch in Ausschüssen und Kommissionen aufgeweicht, die | |
eine erkennbare Nähe zu Industrie und Atombehörden aufweisen. | |
## | |
Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) wurde 1928 gegründet, um | |
Bestimmungen für die Radiologie zu treffen, und legt heute die Grenzwerte | |
für die Bevölkerung und strahlenbelastetes Personal fest. Zu den | |
Mitgliedern zählen wissenschaftliche Institutionen und Repräsentanten der | |
Industrie wie etwa der russischen Atomindustriebehörde Rosatom, des | |
französischen Atomenergiezentrums CEA oder der Energieversorger. Auch die | |
japanischen Behörden ließen die Strahlenschutzwerte nach Fukushima durch | |
die ICRP festsetzen. Das Ergebnis waren noch weit tolerantere Werte, als | |
sie im Frühjahr 1986 in der UdSSR gegolten hatten. | |
Das in der weißrussischen Hauptstadt Minsk ansässige Belrad-Institut für | |
Strahlensicherheit kritisiert diese Unzulänglichkeiten. Nach seinen | |
Beobachtungen leiden weißrussische Kinder an Herz-Kreislauf-Krankheiten, | |
nachdem sie verseuchte Lebensmittel gegessen hatten, die mit 20 Becquerel | |
pro Kilogramm belastet waren. Die nach dem französischen Physiker Henri | |
Becquerel benannte Maßeinheit gibt an, wie viele Atomkerne in einem | |
radioaktiven Stoff durchschnittlich pro Sekunde zerfallen und Strahlung | |
erzeugen. | |
In Japan lag der Grenzwert ursprünglich bei etwa einem Becquerel pro | |
Kilogramm, wurde aber nach der Fukushima-Katastrophe auf 500 Becquerel | |
angehoben, und am 1. April 2012 wieder auf 100 Becquerel gesenkt. Demnach | |
galten Reis und Gemüse zunächst als nicht kontaminiert, das heißt: Sie | |
konnten dank des stark erhöhten Grenzwerts weiterhin verkauft werden. | |
All das geschah mit Billigung internationaler Behörden wie der IAEO und der | |
Weltgesundheitsorganisation WHO, die durch ein Sonderabkommen von 1959 | |
miteinander verkoppelt sind. Die Website [1][independentwho.org] macht | |
dieses Abkommen dafür verantwortlich, dass die WHO die Folgen der | |
Reaktorunfälle von Tschernobyl und auch von Fukushima verharmlost und | |
nichts zur Abwehr der massiven gesundheitlichen Bedrohung für der | |
Bevölkerung beigetragen hat. So wurden in den letzten 25 Jahren „in der | |
kontaminierten Zone rund um Tschernobyl keine ernsthaften Maßnahmen zur | |
sozialen und medizinischen Versorgung durchgeführt“. Und in den Atomstaaten | |
insgesamt sind „nur wenige oder gar keine epidemiologischen Studien“ | |
entstanden.(10) Die offizielle Doktrin sorgt dafür, dass Informationen über | |
Strahlungsrisiken systematisch verschleiert oder heruntergespielt werden. | |
Und dass die Verantwortlichen für die Atomkatastrophen ungestraft | |
davonkommen. | |
Fußnoten: | |
(1) United Nations Information Service, | |
[2][unis.unvienna.org/unis/de/unvienna/iaea.html]. | |
(2) Joseph Rotblat, „Nuclear Proliferation: Arrangements for International | |
Controls“, in: „Nuclear Energy and Nuclear Weapon Proliferation“, Stockho… | |
(International Peace Research Institute) 1979. | |
(3) Mycle Schneider und Antony Froggatt (mit Julie Hazemann), „The World | |
Nuclear Industry Status Report 2012“, Paris/London, Juli 2012: | |
[3][enerwebwatch.eu]. | |
(4) Verbrennungsrückstände der Uranisotope 233U und 235U und | |
hochradioaktive Plutoniumrückstände mit langer Halbwertszeit. | |
(5) IAEO, "Nuclear Technology Review, 2011, Wien, 29. Juli 2011. | |
(6) Rede bei der Ministerkonferenz der IAEO am 20. Juni 2011. | |
(7) Mohamed ElBaradei, „Wächter der Apokalypse. Im Kampf für eine Welt ohne | |
Atomwaffen“, Frankfurt am Main (Campus) 2011. | |
(8) IAEO, Annual Report 2010, Wien 2010. | |
(9) So nannte man die Soldaten, Feuerwehrleute und Techniker, die den Brand | |
im AKW löschen und das Gelände sichern mussten. | |
(10) [4][independentwho.org]. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
[5][Le Monde diplomatique] vom 14.12.2012 | |
15 Dec 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://independentwho.org/ | |
[2] http://unis.unvienna.org/unis/de/unvienna/iaea.html | |
[3] http://enerwebwatch.eu/ | |
[4] http://independentwho.org/ | |
[5] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Agnes Sinai | |
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