# taz.de -- SPD-Politikerin Malu Dreyer: „Ich lasse mich nicht behindern“ | |
> Die designierte Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz über einen neuen | |
> Politikstil, ihre Behinderung und weshalb sie weiter in einem Wohnprojekt | |
> leben will. | |
Bild: Eine etwas andere Chefin: die designierte Ministerpräsidentin von Rheinl… | |
taz: Jünger, Frau, sozial. Frau Dreyer, wird von Ihnen ein anderer | |
politischer Stil in Rheinland-Pfalz zu erwarten sein? | |
Malu Dreyer: Ja, ich glaube schon. Ich bin ein anderer Typ im Vergleich zu | |
Kurt Beck, ohne mich da jetzt distanzieren zu wollen. Ich bin jünger, ich | |
bin eine Frau, Sie sagen es, und ich glaube, dass ich schon einen anderen | |
Politikstil habe. | |
Weniger volksnah? | |
Nein, ich bin schon sehr nah beim Menschen, das würde Ihnen auch jeder in | |
Rheinland-Pfalz bestätigen, nach fast elf Jahren Ministerinnen-Dasein. Ich | |
habe gerne mit Leuten zu tun, ich suche immer Kontakt auch zu Menschen. Und | |
wenn ich Dinge angehe, auch thematisch, beziehe ich immer diejenigen ein, | |
die es betrifft. | |
Als Regierungschefin werden Sie doch sicher auch mal etwas durchdrücken | |
müssen. | |
Natürlich. Es ist aber trotzdem immer eine Frage der, ich sag jetzt mal: | |
Methode, ob ich mich zu Hause in mein Büro setze und mir mit zwei Beratern | |
überlege, was wohl ein guter Weg ist. Oder ob ich die Methode wähle, mich | |
mit den Leuten wirklich zu unterhalten, auch externen Sachverstand | |
einzuholen – und dann zu einer Meinung zu finden. Dass man dazu dann steht | |
und manchmal alle Kraft daran setzen muss, sie politisch auch umsetzen zu | |
können, das ist auch klar. | |
Als Sie von Kurt Beck gefragt worden sind, ob Sie seine Nachfolge | |
übernehmen wollen, haben Sie damals damit gerechnet? | |
Nicht zu diesem Zeitpunkt. Keiner von uns hat damit gerechnet, dass Kurt | |
Beck ausgerechnet jetzt geht, sondern: Jeder wusste, irgendwann, wenn die | |
Gesundheit es nicht mehr zulässt, hört Kurt Beck auf. Ich wusste, weil ich | |
ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm habe, dass gesundheitlich nicht | |
alles so super ist. Aber trotzdem habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht damit | |
gerechnet. | |
Sie waren aber vorbereitet? | |
Ja, ich wusste, wenn die Frage kommt, hat man wenig Zeit, sich zu | |
entscheiden. Dann muss man innerlich wissen, was man will. | |
Und Sie wussten es? | |
Ja. | |
Bei der Wahl 2016 werden sich in Rheinland-Pfalz zwei Frauen | |
gegenüberstehen: die konservative Julia Klöckner und Sie. Werden Sie den | |
Wahlkampf mit der Betonung auf das Soziale führen? | |
Soziale Gerechtigkeit ist das Thema, das mich schon mein ganzes Leben lang | |
begleitet, in unterschiedlichster Weise. Das wird auch prägend sein für | |
mich als Ministerpräsidentin. Einen demografischen Wandel zu gestalten, bei | |
dem die Welt wenigstens noch ein bisschen gerechter wird, das ist mir schon | |
sehr wichtig. Es geht um Weichenstellungen: Wo bleibt die Jugend? Wie | |
nehmen wir die mit, die nicht so stark sind? | |
Frau Dreyer, mit der Agenda 2010 haben doch gerade die Sozialdemokraten | |
hier viel Vertrauen verspielt. Oder etwa nicht? | |
Ja, es gab da schon ein paar Punkte … es ist so: Wir hatten damals fünf | |
Millionen Arbeitslose, daran erinnere ich mich noch ziemlich gut. Ich war | |
Arbeitsministerin 2002, und es gab nur ein einziges Thema, überall, auch in | |
den Medien: Wie kann man diese Arbeitslosigkeit reduzieren? Damals, mit | |
diesem neoliberalen Zeitgeist, war man auch geneigt, einiges zu tun, was | |
wir heute nicht mehr täten, um dieses Problem zu bewältigen. Das kreide ich | |
auch im Nachhinein der SPD nicht an. | |
Was dann? | |
Ich glaube, eines haben wir damals auf jeden Fall verpasst, und das war der | |
Mindestlohn. Mit dem hätte vieles anders ausgesehen. Trotzdem will ich der | |
SPD zugutehalten, dass wir jetzt doch schon seit vielen Jahren dafür | |
kämpfen, manches zu korrigieren. | |
Wie wird denn konkret korrigiert? | |
Wir haben zum Beispiel im Bundesrat viele Initiativen eingebracht zum Thema | |
Niedriglohn, zum Thema Werkvertrag, zum Thema Leiharbeit, zum Thema | |
Mindestlohn. Wir hoffen jetzt einfach mal, dass die Niedersachsen-Wahl | |
positiv ausgeht in unserem Sinne, sodass der Bundesrat auch mal wieder eine | |
gestalterische Mehrheit hat – und nicht nur eine verhindernde Mehrheit. | |
Danach steht die Bundestagswahl an, um mit Rot-Grün endlich wichtige Dinge | |
in diesem Sinne realisieren zu können. | |
Rot-Grün? | |
Rot-Grün! Wir machen ja in Rheinland-Pfalz gute Erfahrungen mit Rot-Grün. | |
Und ich bin mir mit Hannelore Kraft einig: Wir könnten durchaus beide | |
unsere Bundesländer als Blaupause für die Bundesrepublik nehmen. Mit den | |
Grünen hatten wir in Grundsatzfragen eigentlich nie einen Dissens. Fragen | |
wie „Privatisierung oder Solidarisierung des Gesundheitssystems“, das sind | |
einfach keine Fragen, das ist zwischen uns einfach völlig klar. | |
Sie haben aber auch schon gesagt, Sie wollten „auf die CDU zugehen“. Was | |
kann man sich darunter vorstellen? | |
Das entspricht meinem politischen Verständnis, dass an erster Stelle das | |
Land steht. Es gibt bestimmte Projekte, die sind für das Land von sehr | |
großer Bedeutung, und da wäre es schon gut, auch mit der Opposition | |
zusammenzuarbeiten. | |
Welche Projekte? | |
Sagen wir: Kommunale Gebietsreform, das ist schon gut, wenn man das | |
gemeinsam mit der Opposition macht. Die letzte große Gebietsreform in | |
Rheinland-Pfalz war ja unter Helmut Kohl, breit getragen. | |
Hat Helmut Kohl auf Sie als junge Pfälzerin einen Eindruck gemacht? | |
Ich komme ja aus einem CDU-Haushalt, aber mit Helmut Kohl hatte ich nie zu | |
tun. Nachdem ich von zu Hause ausgezogen bin, war ich auch eher | |
außerparlamentarisch tätig. Ich komme ja eigentlich aus dem feministischen | |
Bereich, habe hier in Mainz ein Mädchenhaus aufgebaut mit meinen | |
Freundinnen, war dann in der feministischen Mädchenarbeit sehr aktiv und | |
auch bei Amnesty International … und habe dann erst den Weg in die | |
Parteipolitik gefunden. Für die SPD habe ich mich erst entschieden, nachdem | |
ich Bürgermeisterin geworden war. | |
Aus welchen Gründen? | |
Politisch war ich schon lange eine „Rotgrüne“. Letztlich war für mich die | |
Sozialdemokratie die einzige Partei, die klar für Solidarität und | |
Gerechtigkeit stand. Und das ist aus meiner Sicht auch nach wie vor so. | |
Nicht die Linke mit Oskar Lafontaine? | |
Nein, überhaupt nicht. Die Linke hat mich nie überzeugt. Auch nicht Oskar | |
Lafontaine. Zwar war auch ich nicht mit allem bei der Agenda 2010 | |
einverstanden, es war aber auch nicht alles falsch. Da bin ich dann eher | |
der Typ, der versucht, innerhalb der Partei etwas zu verändern. | |
Ihre Meinung zum Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück? | |
Ich war kürzlich mit Hannelore Kraft zusammen, und wir sind uns einig, dass | |
wir kämpfen werden mit Peer Steinbrück, und dass hoffentlich – hoffentlich! | |
– die ganzen Themen, die in letzter Zeit eine Rolle gespielt haben, wieder | |
vom Tisch sind und wir uns auf das Wesentliche konzentrieren können. Peer | |
Steinbrück hat seine Vorzüge. Wir glauben schon, dass er in Zeiten von | |
Europa und Finanzkrise und allem, was uns umtreibt, eine hohe Expertise | |
hat. Also: Ich stehe zu unserem Kanzlerkandidaten. | |
Bundeskanzler Peer Steinbrück, Bundessozialministerin Malu Dreyer? | |
Ersteres ja, Letzteres nee, also, das ist so was von klar … Erstens habe | |
ich es nie angestrebt, auf der Bundesebene so ein Ministeramt zu bekleiden. | |
Die Entscheidung ist klar: Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz. Das wird | |
schön und auch herausfordernd. | |
Was wird sich für Sie persönlich ändern? Werden Sie in Trier wohnen | |
bleiben? | |
Ja, aber ich habe ja auch hier in Mainz noch eine Wohnung. Aber ich bleibe | |
natürlich auch in Trier in unserem Wohnprojekt wohnen mit meinem Mann und | |
fliege dann von Luxemburg aus nach Berlin, am Montagmorgen um sechs Uhr, | |
meine Lieblingsmaschine. Das ist hart. Ich habe ja nichts gegen | |
diszipliniertes Arbeiten, aber morgens um sechs am Flughafen, das mache ich | |
natürlich regelmäßig, aber es ist nicht schön. | |
Das Wohnprojekt in Trier ist eine sehr offene Angelegenheit, wo sie sehr | |
eng … | |
Die Nachbarn ziehen alle aus! Nein, ich bin total überzeugt von dieser Form | |
des Zusammenlebens. Das Schammatdorf ist das älteste Wohnprojekt in | |
Rheinland-Pfalz. Und da wohnen ja, ich sag’s jetzt einmal sehr platt, Arme, | |
Reiche, Kinderreiche, Alleinstehende, Alte, Junge, Behinderte, | |
Nichtbehinderte. Und das ist einfach toll. Ein Spiegelbild der | |
Gesellschaft, wie ich sie mir vorstelle, wo niemand ausgesondert wird, | |
sondern alle zusammenleben und jeder seine Fähigkeiten einbringen kann. | |
Toll ist auch das Verhältnis von Distanz und Nähe. Jeder hat seine eigene | |
Wohnung und kann allein sein, sich aber auch einbringen, wenn er Lust hat. | |
Ohne ein gewisses Interesse am sozialen Miteinander ist man da aber echt | |
nicht gut aufgehoben. | |
Ein utopischer Ort sozusagen. Denn draußen … | |
… ist es kalt und hart? | |
Ja. Wohnungen sind in den meisten Städten ja beispielsweise kaum noch zu | |
bezahlen. | |
Ja, das ist ein echtes Problem. Ich bin darüber hinaus aber fest davon | |
überzeugt, dass alternatives Wohnen gerade für uns in den ländlichen | |
Regionen ein riesiges Thema wird. Ich wüsste nicht, wie Menschen, die auf | |
dem Land alt und damit vielleicht auch einsam werden, sonst leben sollen. | |
Das andere ist: Sie haben immer so eine Erdung, wenn sie nach Hause kommen. | |
Da kommen Sie ja immer in Kontakt mit den Nachbarn. Sie treffen immer | |
jemanden, es gibt auch immer ein kleines Problem, wer den Rasen mäht oder | |
warum die Blumen eingegangen sind. Es gibt ja eine Art déformation | |
professionnelle, die man, glaube ich, in jedem Beruf hat. Umso mehr hilft | |
die Vielfalt des Umfeldes in unserem Wohnprojekt, wieder eine gute Erdung | |
zu finden. | |
Frau Dreyer, Sie leiden unter Multipler Sklerose. Sehen Sie sich als erste | |
behinderte Ministerpräsidentin? | |
Die einzige Einschränkung ist die Mobilitätseinschränkung, also ich kann | |
nicht gut gehen. Wenn man eine chronische Erkrankung hat so wie ich, dann | |
ist es eine Frage, wie man persönlich mit so einer Diagnose umgeht, und man | |
braucht auch ein bisschen Glück. Und ich habe irgendwann für mich die | |
Entscheidung getroffen, dass ich mich nicht behindern lasse durch meine | |
Erkrankung, sondern dass ich trotzdem versuche, mein Leben zu meistern. Ich | |
hatte dann auch das Glück, dass sich meine Krankheit eigentlich absolut | |
positiv entwickelt. | |
Aber Sie sitzen doch häufig im Rollstuhl. | |
Ich habe eben diese Mobilitätseinschränkung, deshalb benutze ich auch | |
regelmäßig einen Rollstuhl. Die Berliner wissen das übrigens, wenn ich im | |
Bundesrat oder im Vermittlungsausschuss bin, bin ich eigentlich immer nur | |
im Rollstuhl unterwegs, weil man dort ständig die Räume wechseln muss. Und | |
das ist es eigentlich. Und an den Politiker im Rollstuhl hat sich die | |
Bevölkerung ja inzwischen durch Herrn Schäuble ein bisschen gewöhnt und die | |
Rheinland-Pfälzer sowieso. Es ist für mich ein Zeichen, dass die | |
Normalisierung und die Inklusion ein ganzes Stück weitergekommen ist in | |
Deutschland. | |
Was ja auch politisch Ihr Thema ist. | |
Das natürlich. Es gibt noch viel Neugierde, viele wollen wissen, wie das | |
eigentlich ist. Das ist auch in Ordnung. Aber trotzdem gibt es nicht diesen | |
grundsätzlichen Vorbehalt wie vielleicht vor zehn, zwanzig Jahren. Das | |
finde ich ein gutes politisches Zeichen. | |
Kann diese Krankheit auch ein Vorteil sein? | |
Nein, ich halte das alles für ein Gerücht, sowohl den Malus als auch den | |
Bonus. Den gäbe es ja nur, wenn es in der Politik so etwas wie Gnade gäbe, | |
aber in der Politik gibt es keine Gnade. Da muss man total nüchtern mit | |
umgehen. | |
Sie haben Ihre politische Arbeit als Feministin begonnen. Sind Sie heute | |
noch eine? | |
Das Wort ist ja heute anders angetönt als früher. Egal. Trotzdem. Ich stehe | |
zur Frauenquote, ohne Wenn und Aber. Ich halte auch nichts von einer | |
Flexiquote. Ich glaube, wir haben ein ganzes Stück geschafft. Aber richtig | |
geschafft haben wir es erst, wenn wir nicht mehr darüber diskutieren | |
müssen: Welches Geschlecht hat eigentlich eine Person in einem politischen | |
Spitzenamt. Diese Frage haben Sie nicht gestellt, die stellen aber viele – | |
es ist offenbar immer noch etwas Besonderes, wenn Frauen | |
Ministerpräsidentin werden. Und das sollte Normalität sein in allen | |
Bereichen, und so lange braucht man auch noch Frauenpolitik und eine | |
Frauenquote. | |
Sie sind gläubige Katholikin … | |
Gläubig … | |
Nun, Sie haben es doch studiert! | |
Zwei Semester. | |
Sind Sie dann abgefallen? | |
Vom Glauben? | |
Womöglich! | |
Nur vom Glauben, dass ich noch mal Lehrerin werden könnte, denn es war die | |
Zeit der Lehrerschwemme. Das war der Grund, warum ich das Studienfach | |
gewechselt habe. Ich bin aber eigentlich schon ein gläubiger Mensch. Ich | |
würde mir mehr Reformwillen in der katholischen Kirche wünschen. | |
Gehen Sie in die Kirche? | |
Ab und an. Besonders gern, wenn dort Musik gespielt wird. | |
Bach? | |
Zum Beispiel. Liegt vielleicht auch daran, dass ich früher Orgel gespielt | |
habe. | |
14 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
A. Frank | |
T. Reuter | |
## TAGS | |
Rheinland-Pfalz | |
SPD | |
Malu Dreyer | |
Kurt Beck | |
Multiple Sklerose | |
Inklusion | |
Frauenpolitik | |
Rheinland-Pfalz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Inklusion beim Arzt: Ein Stadtplan zur Hilfe | |
Die Patienten-Initiative startet das Projekt „Barrierefreie Arztpraxen“. | |
Mit einer Checkliste wird untersucht, ob Praxen behindertengerecht | |
gestaltet sind. | |
„Feminismusverräterin“ berät SPD: Die Frauenversteher | |
Die SPD hat ein Problem mit der F-Frage. Die US-amerikanische | |
Politikwissenschaftlerin Ann-Marie Slaughter soll Abhilfe schaffen. | |
Stabswechsel in Rheinland-Pfalz: Malu Dreyer ist Regierungschefin | |
Kurt Beck tritt ab, Malu Dreyer übernimmt: Die bisherige | |
SPD-Sozialministerin ist neue Mininisterpräsidentin von Rheinland-Pfalz. | |
Sie erhält alle Stimmen von Rot-Grün. | |
Zukunft der Sozialdemokratie: „In der SPD gilt das Prinzip Hoffnung“ | |
Der Sozialwissenschaftler Stephan Klecha glaubt, dass die SPD mit | |
Steinbrück allein die Wahl nicht gewinnen kann. Nötig wären Inhalte. | |
Nachfolge von Kurt Beck: Frauenpower für Rheinland-Pfalz | |
Die bisherige Mainzer Sozialministerin Malu Dreyer soll neue | |
Regierungschefin werden. Als Übergangskandidatin gilt die 51-Jährige nicht. | |
Ministerpräsident will Ämter niederlegen: Bye-bye, Beck | |
Seit 1994 war Kurt Beck in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident. Mit dem | |
Rückzug erweist er seinen Sozialdemokraten einen letzten Dienst. |