| # taz.de -- Ein Jahr nach der Pleite: Drei Schlecker-Frauen erzählen | |
| > Vor einem Jahr ging die Drogeriekette Schlecker pleite. Tausende | |
| > Verkäuferinnen verloren ihren Job. Was ist aus ihnen geworden? Drei | |
| > Beispiele. | |
| Bild: Die große Leere bei Schlecker. | |
| ## Claudia Jacobs: Glück und Erspartes | |
| Bei Claudia gibt es fast alles. Eine Rentnerin kauft Duschgel, Obst, Chips | |
| und Zigaretten. Ihre Enkelin bekommt Malstifte. Ein Mann stürmt herein und | |
| will sein Versandpäckchen abholen. Die Rentnerin nimmt noch eine Zeitung | |
| mit. Es gibt Tiefkühlware, Tierfutter, Uhren, Milch, Obst, Backzutaten und | |
| Zigaretten, einen Fotodruck-Automaten und Briefmarken. | |
| Das Sortiment in dem Flachbau ist relativ groß: Fünf Doppelregale und | |
| Wandregale ringsum stehen in dem geräumigen Laden, vorn ist zudem eine | |
| Café-Ecke eingerichtet. Hier kocht Claudia Jacobs Eisbein, Sauerbraten, | |
| Grützwurst, Hausmannskost. Ab 12 Uhr stehen die Rentnerinnen aus der Gegend | |
| Schlange fürs „Essen wie bei Muttern“. | |
| Es ist viel besser als bei Schlecker, sagt Claudia Jacobs. Sie ist 45 und | |
| schmeißt „Claudias Kiezladen“ zusammen mit ihrem Mann. Bei Schlecker, wo | |
| sie Marktleiterin war, hätte sie zum Beispiel niemals mit einer | |
| Journalistin in die Café-Ecke sitzen und über ihre Arbeit plaudern können. | |
| Sie kann das Sortiment genau an ihre KundInnen anpassen – deshalb die | |
| breite Auswahl –, „und ich muss nicht immer zur Tür gucken, ob da jemand | |
| reinkommt“. | |
| Die gefürchteten Schlecker-Kontrolleure, die unangemeldet kommen und den | |
| Laden inspizieren, das alles ist vorbei. Claudia Jacob ist eine | |
| Ausnahmeerscheinung, sie gehört zu einer Minderheit der Schlecker-Frauen. | |
| Von rund 23.000, die vergangenes Jahr ihren Job verloren, fanden nur 9.800 | |
| wieder eine Arbeit. Und: Sich selbstständig machen, das geht nicht so | |
| leicht. | |
| Die praktisch gekleidete Frau mit den langen blonden Haaren und blauen | |
| Augen hatte das Startkapital für den Laden, weil sie in den Jahren zuvor | |
| noch nebenher Geld verdient und eisern gespart hatte: Gemeinsam mit ihrem | |
| Mann fuhr sie an den Wochenenden durch die Umgebung, um Haushalte | |
| aufzulösen. Sie ersteigerten Restposten per Ebay und verkauften alles auf | |
| dem Flohmarkt. „Andere sind am Wochenende baden gegangen, wir sind trödeln | |
| gegangen, so kam das“, sagt sie. | |
| Knapp 80.000 Euro haben sie über die Jahre auf die hohe Kante gelegt. „Das | |
| war unser großes Glück“, so Jacobs. „Mit Krediten hätten wir das niemals | |
| gemacht“, wirft ihr Mann ein: „Nur ohne Schulden, das war unsere Devise.“ | |
| Ihr Geschäft liegt in einem Wohnviertel im Berliner Randbezirk Lankwitz. | |
| Sechsgeschosser wechseln ab mit Reihen- und Einfamilienhäusern. Regelmäßig | |
| geht die Ladentür auf, es ist nicht viel los an diesem frühen Nachmittag, | |
| aber es kommen doch stetig Kunden. | |
| Bei Schlecker wachte Claudia Jacobs über zwei Mitarbeiterinnen, beide sind | |
| heute noch arbeitslos. „Ich wusste sofort, dass ich mich selbstständig | |
| mache“, sagt sie. Einer Mitarbeiterin bot sie an mit einzusteigen, doch die | |
| traute sich nicht. „Man muss ehrlich sein“, sagt Jacob, „viele haben das | |
| Startkapital nicht.“ | |
| Und? Ernährt der Laden die beiden Besitzer? Ja, sagen sie. Den Gewinn | |
| verraten sie nicht. Aber zwischen 500 und 1.000 Euro Umsatz kommen pro Tag | |
| zusammen. Ihr Plus ist das stetige Experimentieren: Der Fotodrucker ist zu | |
| teuer – er wird wieder abgeschafft. Auf Ebay ersteigern sie Ware für einen | |
| Weihnachtsmarkt „fürn Appel und ’n Ei“, sagt Mario Jacobs. | |
| In ihrem riesigen Keller richten sie dann einen eigenen Weihnachtsmarkt | |
| ein, mit großem Gewinn. „Wir können beide nicht still sitzen“, beschreibt | |
| Claudia sich und ihren Mann. Seit vier Jahren sind sie zusammen, die Kinder | |
| aus der früheren Beziehung sind schon aus dem Haus. | |
| Sie fühlen sich vom Schicksal geküsst: Beide sind am selben Tag geboren, im | |
| Sternzeichen Krebs. Zwei haben sich gefunden. Und ihren Job dazu. | |
| ## Yvonne Bruder: Jetzt wird sie Erzieherin | |
| Sie hatte gerade gedacht, es sei geschafft. Es sollte ein Ende haben, die | |
| unregelmäßige Belieferung, die Filialen, die geschlossen wurden. Ein Fax | |
| der Geschäftsführung verbreitete Erleichterung, die Wende sei geschafft. | |
| Doch am nächsten Tag kamen Kunden in den kleinen Laden im bayerischen | |
| Schwabach und sagten: „Wie geht es Ihnen? Im Radio habe ich gerade gehört, | |
| dass der Schlecker Insolvenz angemeldet hat.“ | |
| Yvonne Bruder ist eine Rarität: Die 38-Jährige ist die Schlecker-Frau, die | |
| Erzieherin wird. Die christdemokratische Arbeitsministerin Ursula von der | |
| Leyen hatte diese schöne Idee im Sommer nach der Pleite verkündet. Doch | |
| schon bald stellte sich heraus, dass die drei- bis vierjährige Ausbildung | |
| von der Arbeitsagentur nicht bezahlt wird. Nach zwei Jahren ist dort | |
| Schluss. | |
| Yvonne Bruder hatte sich bei anderen Läden beworben, doch ob | |
| Spielwarenkette, ob Lebensmitteldiscounter: Der Lohn war erschreckend | |
| niedrig, oft war es nur die Hälfte ihres Schlecker-Lohns von 15 Euro. Und | |
| damit würde sie weniger als das Arbeitslosengeld erhalten. | |
| Yvonne Bruder kommt aus dem Vogtland, nach der Wende wollte die | |
| Abiturientin Lehrerin werden. Doch sagte man ihr bei der Berufsberatung | |
| eine Lehrerschwemme voraus. „Ich habe mich abbringen lassen“, erinnert sie | |
| sich. Yvonne Bruder orientierte sich um, wurde Trainee bei Schlecker. 19 | |
| Jahre war sie insgesamt dabei. „Ich bereue das nicht“, sagt Bruder, „die | |
| Arbeit hat Spaß gemacht, vor allem der Kontakt mit den Kunden.“ Aber nach | |
| von der Leyens Ankündigung fand sie, die Pleite könne für sie persönlich | |
| auch zu einer Chance werden. | |
| „Jetzt könntest du doch noch mal etwas Pädagogisches machen, dachte ich“, | |
| erzählt Bruder. Als die Arbeitsagentur ihr diesen Zahn gleich wieder ziehen | |
| wollte, ließ sie nicht locker. Schrieb an Ministerin von der Leyen. An den | |
| bayerischen Staat. Belagerte ihre Arbeitsagentur. Die Agentur sagte: geht | |
| nicht. Die Ministerien sagten: Wenden Sie sich an Ihre Agentur. Doch die | |
| Mails nach ganz oben zeigten dennoch Wirkung. Eines Tages rief der Berater | |
| Yvonne Bruder an: Sie bekäme den entsprechenden Bildungsgutschein. | |
| Seit September besucht Yvonne Bruder eine Fachschule für Pädagogik. Ein | |
| erstes Praktikum im Hort einer Grundschule hat sie schon hinter sich. „Das | |
| hat mich bestätigt. Der Beruf ist richtig für mich: Den Kleinen bei ihrer | |
| Entwicklung helfen, basteln, bei den Hausaufgaben helfen, das hat mir alles | |
| großen Spaß gemacht.“ | |
| Ihr drittes Jahr ist zwar immer noch nicht finanziert, aber inzwischen | |
| plant die bayerische Staatsregierung ohnehin, die Ausbildung auf zwei Jahre | |
| zu verkürzen. Unter Umständen existiert das dritte Jahr gar nicht mehr, bis | |
| Yvonne Bruder dort angelangt ist. Damit könnte die Schlecker-Frau eine | |
| Vorreiterin werden: Das Land täte gut daran, die Ausbildung regulär als | |
| Umschulung anzubieten. Erzieherin, das ist der Mangelberuf der Zukunft. | |
| ## Eileen Steiner: Noch nicht einmal Absagen | |
| „Zuerst ging es mir gar nicht so schlecht. Na gut, musste dich halt mal | |
| wieder bewerben, hab ich gedacht. Aber inzwischen ist das anders.“ Eileen | |
| Steiner dachte, eine Frau in ihrem Alter, 36 Jahre, mit einer | |
| abgeschlossenen Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation, die kann es | |
| auf dem Arbeitsmarkt ja nicht so schwer haben. Die Berlinerin, Mutter | |
| dreier Kinder, meldete sich arbeitslos und bewarb sich: Rossmann, dm, Aldi, | |
| Lidl, Kräuter Kühne, ein Bioladen. Absagen. Noch nicht mal eine Einladung | |
| zum Gespräch. | |
| Dann der Bahnhofskiosk: Ob sie um fünf Uhr morgens anfangen könnte? Kann | |
| sie nicht, morgens muss sie die Kleine für die Kita fertig machen. Wenn ihr | |
| Mann Nachtschicht bei den Wasserbetrieben hat, kommt er dafür zu spät. Sie | |
| fragte bei Büros nach freien Stellen und erhielt nicht mal eine Absage. | |
| Eine Fortbildung zur Kommunikationsassistentin für Hörgeschädigte kam nicht | |
| zustande. In der Zeitarbeitsfirma riet man ihr, erst das Arbeitslosengeld | |
| auszureizen. Die 7,60 Euro, die sie in der Firma verdiene, lägen unter | |
| ihrem Arbeitslosengeld. „Ich habe unterschätzt, dass der Arbeitsmarkt im | |
| Handel überschwemmt ist mit entlassenen Kolleginnen. Die einen Job gefunden | |
| haben, sind jung oder haben keine Kinder – am besten beides. Die | |
| Unternehmen können sich die Rosinen rauspicken“, sagt sie. Dass sie als | |
| Betriebsrätin in der Öffentlichkeit aufgetreten sei, habe ihre Chancen | |
| sicher nicht erhöht. | |
| Dann kam Ministerin Ursula von der Leyen mit ihrer Kita-Idee. Eileen | |
| Steiner zog zur Arbeitsagentur: Sie sei bereit für die Ausbildung. Für sie | |
| gebe es keine Bildungsgutscheine, so die Auskunft. Eileen Steiner begann, | |
| den Mut zu verlieren. Zu Hause zu sitzen „ist ja nicht wie Urlaub. Sie | |
| blicken da ins Unendliche. Manchmal saß ich dann nur da und habe geheult.“ | |
| Ihr Hobby, das Nähen, hat sie mittlerweile ausgebaut. Ob sie sich damit | |
| nicht selbstständig machen solle, fragt sie ihre Sachbearbeiterin. Die | |
| lächelt freundlich und rät entschieden ab. Kleinstgewerbe, von denen man | |
| nicht leben kann, kennt sie zur Genüge. | |
| In sechs Monaten läuft das Arbeitslosengeld von Eileen Steiner aus. Hartz | |
| IV bekommt sie nicht, dafür verdient ihr Mann zu viel. Schon jetzt belastet | |
| sie, dass sie weniger eigenes Geld hat. „Den Mann bitten, einem Geld fürs | |
| Einkaufen zu geben, das finde ich schrecklich“, sagt sie. | |
| Die Idee mit der Erzieherinnenausbildung hat sie nicht losgelassen, | |
| schließlich wird das Land bald Pädagoginnen brauchen. Man kann auch eine | |
| Lehre machen, direkt in einer Kita, hat sie inzwischen herausgefunden. | |
| Jetzt sucht sie gerade Kitas heraus, die Azubis nehmen. Dann hätte sie | |
| Lehrgeld – und eine Ausbildung. Wollen die eine 37-jährige Kauffrau als | |
| Lehrling? Keine Ahnung. Und wenn es nicht klappt? „Dann geh ich putzen“. | |
| Das habe ich mit 16 schon mal gemacht, warum sollte ich das 20 Jahre später | |
| nicht wieder machen?“ Als würde das Leben dazwischen gar nicht zählen. | |
| 18 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Heide Oestreich | |
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