# taz.de -- Ein Nachruf auf Papst Benedikt XVI.: Der Unnahbare | |
> Menschenscheu, linkisch, aber höflich erschien Joseph Ratzinger als Papst | |
> Benedikt XVI. Gedanklich lebt er in einer Welt, die seit Jahrhunderten | |
> nicht mehr existiert. | |
Bild: Nicht ganz von dieser Welt, mehr im Gestern als im Heute erscheint Papst … | |
Eine Wand von Kameras. Dazwischen, gerade noch zu sehen und zu hören, wenn | |
man sich etwas reckt, ein alter Mann in einem knöchellangen Talar, mit | |
einer weißen Kippa auf dem Hinterkopf und einer schwachen, fast zitternden | |
Stimme. Auf dem Flug von Rom nach Berlin sagt der 84-Jährige etwas – aber | |
das ist so belanglos, dass man den Stift bald zur Seite legt. | |
Näher kam man selbst als beim Vatikan mit großer Mühe und Aufwand | |
akkreditierter Journalist an Papst Benedikt XVI. nicht heran. Nun tritt das | |
Oberhaupt von 1,1 Milliarden Katholiken weltweit zurück. Das ist selbst in | |
der Geschichte der katholischen Kirche einzigartig, sieht man vom letzten | |
Rücktritt eines Papstes 1294 ab. Der Geistliche Joseph Ratzinger zeigte | |
sich stets so, was damals im Flugzeug auf dem Weg zu seinem | |
Deutschlandbesuch 2011 war: ein Unnahbarer. Ein Mann, nicht ganz von dieser | |
Welt. | |
Diese Distanz zum Diesseits und Heute begann mit früh. Joseph Aloisius | |
Ratzinger wurde in die scheinbar heile, jedoch rückwärtsgewandte Welt des | |
bayerischen Katholizismus hinein geboren. Als Sohn einfacher Eltern, wie er | |
in seinen Erinnerungen schreibt: die Mutter eine fromme Hausfrau, der Vater | |
ein zu den Nazis distanziert stehender Polizist. | |
## Als Junge spielte er die Heilige Messe | |
Die Kindheit und Jugend des späteren Papstes verlief geradlinig. Auffällig | |
ist, dass das hoch intelligente Kind eine fast perfekte katholische | |
Erziehung genoß, der Junge diesen Kosmos nie verließ und sein Berufswunsch | |
Priester offenbar schon seit Knabenzeiten bestand und von ihm nie in Frage | |
gestellt wurde. Berühmt ist das Lieblingsbuch des kleinen Joseph Ratzinger: | |
der „Schott“, das katholische Messbuch in Latein, mit dem er schon als | |
Junge die Heilige Messe nachspielte. | |
Wider Willen rutschte er in die Hitlerjugend und als Mitglied eines | |
erzbischöflichen Studienseminars am Ende des Krieges als Luftwaffenhelfer | |
in des Führers letztes Aufgebot. Das haben ihm zu seiner Wahl zum Papst | |
2005 nur britische Massenblätter zum Vorwurf gemacht. | |
Man mag an Benedikt XVI. kritisieren, dass seine Sicht des Hitler-Regimes | |
und des Holocaust von den 1950er geprägt ist, als man den Diktator als | |
großen Verführer des deutschen Volkes sah – und den Holocaust als eine | |
Katastrophe, die irgendwie über die Juden herab gekommen sei. Ihm deshalb | |
Spuren von Antisemitismus oder Holocaust-Leugnung zu unterstellen, ist bei | |
weitem übertrieben. | |
Benedikts Rede in Auschwitz 2006 zeigt das. Sie gehört zu seinen stärksten | |
Texten, seine Hauptthese war, dass das im Kern atheistische, ja | |
christenfeindliche NS-Regime mit dem Mord an den Juden die ersten Träger | |
einer göttlich verankerten, also dem Menschen nicht verfügbaren Moral | |
zerstören wollte: die Juden als Schöpfer und Bewahrer der Zehn Gebote, des | |
Menschheitsgesetzes an sich. | |
## Als Theologe eine Blitzkarriere | |
Joseph Ratzinger hat in den Jahren nach dem Krieg als Theologie-Professor | |
eine Blitzkarriere gemacht. Seine gedankliche Schärfe und seine sprachliche | |
Eleganz war in manchen Texten der vergangenen Jahre immer noch zu | |
bewundern. Erstaunlich war, dass er damals als „peritus“, als offizieller | |
Berater, das reformorientierte Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) mit | |
prägen konnte – und zwar auf dem Gaspedal stehend und nicht auf der Bremse. | |
Unklar ist warum er ab Mitte der 1960er die Seiten wechselte und das Konzil | |
zunehmend mit Skepsis bedachte. | |
Zitate von ihm sprechen dafür, dass Ratzingers Erfahrungen mit | |
antikirchlichen und rüpelhaften Studenten der 68er Bewegung in Tübingen | |
traumatisch waren und eine Art Fluchtinstinkt auslösten: zurück in die | |
Vergangenheit, zurück in die Welt des bayerischen Katholizismus. Ratzinger | |
wurde nach 1968 zuerst Professor im beschaulichen Regensburg, dann | |
Erzbischof von München. | |
Wer genau zuhörte, konnte bei allen rhethorischen Verbeugungen vor dem | |
Konzil schon damals einen Zungenschlag bei Ratzinger entdecken: Das Konzil | |
ist zu weit gegangen, Moderne, Vernunft und Aufklärung bedürfen des | |
Glaubens, Europa verrät seine Wurzeln. Ein typischer Satz Ratzingers: | |
„Schließlich ist ja auch die Atombombe ein Produkt der Vernunft; | |
schließlich sind Menschenzüchtungen und -selektion von der Vernunft | |
ersonnen worden.“ | |
## Ratzinger leitet ein Vierteljahrhundert lang die Inquisition | |
Kein Wunder, dass ein solcher Mann vom großen Anti-Modernen der damaligen | |
Zeit, Papst Johannes Paul II., in eine Schlüsselrolle in der Weltkirche | |
gehievt wurde: Karol Woytila, selbst geprägt vom konservativen | |
Katholizismus Polens, konnte in Ratzinger ein alter ego sehen. | |
Er machte den zum Kardinal erhobenen Ratzinger zum Chef der | |
Glaubenskongregation im Vatikan, also zum Leiter der Institution, die | |
früher als Heilige Inquisition vor allem Angst und Schrecken verbreitet | |
hatte. In dieser Position blieb Ratzinger fast ein Vierteljahrhundert und | |
prägte die Kirche fast so stark wie sein Papst, dem er intellektuell und | |
theologisch überlegen schien. | |
Kardinal Ratzinger blieb der Politik stets fern, nur indirekt äußert er | |
sich zu politischen Dingen. Johannes Paul II. besuchte die halbe Welt | |
persönlich, faszinierte live Millionen Menschen. Sein treuer Gehilfe | |
Ratzinger dagegen scheute das Kameralicht und das Bad in der Menge. Als | |
Papst wirkte er linkisch und menschenscheu in der Öffentlichkeit, höflich, | |
aber unnahbar. | |
## Wie ein Fallbeil rast das Papst-Amt auf ihn zu | |
Nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. schlüpfte Kardinal Ratzinger im | |
April 2005 überraschend, fast heimlich in die weißen Kleider des Papstes: | |
zu sehr schien er ein Frontmann der Konservativen im Vatikan zu sein. Aber | |
er hatte eben Jahrzehnte zuvor das Feld für einen wie ihn bereitet. | |
Dass er es dann selbst machen sollte, war wohl eher eine Überraschung. | |
Ratzinger hatte stets die große Bühne gescheut. Später sagte er, er habe | |
die Wahl zum Papst wie ein Fallbeil gesehen, dass auf ihn zuraste – und | |
eigentlich habe er gehofft, pensioniert zu werden und noch theologisch | |
etwas vorzulegen, mit „letzter Tinte“ sozusagen. | |
Seine Jahre als Papst, werden von den Kirchenhistorikern wohl als Nachklang | |
zur Ära von Johannes Paul II. gewertet werden – wenn man nicht überhaupt | |
von einer Wojtyla-Ratzinger-Epoche der Restauration reden wird. Nicht alles | |
war Restauration und Rückschritt. Aber es fällt schwer, in diesen Jahren an | |
der Kirchenspitze Wichtiges zu erkennen, das nicht nach rückwärts gewandt | |
war, sieht man von Gottesdienst-Shows vor Jugendlichen oder | |
Internetgeplänkel ab. | |
## Missbrauch? Welcher Missbrauch? | |
Konnte Ratzinger in seinen ersten Jahren auf dem Stuhl Petri noch einige | |
Intellektuelle ob seiner radikal abgewandten Weltsicht faszinieren, erlosch | |
diese Faszination recht schnell. Auch seine Augsburger Rede zum Islam 2006 | |
war kein intellektueller Wurf, sondern vor allem eine Beleidigung durch die | |
Blume. | |
Und so faszinierend es war, dass sich ein Papst ohne Anspruch auf | |
Unfehlbarkeit mit theologischen Büchern auf dem Markt zu behaupten wagte, | |
so ernüchternd war meist die Lektüre etwa seines Jesus-Buches: Der Glaube | |
an den Auferstandenen erschloss sich da in einem Zirkelschluss nur dem | |
Glaubenden, nicht dem Glaubensfernen, der Rationalistin. Auch hier: | |
Unnahbarkeit. | |
Die große Missbrauchskrise der Katholischen Kirche mag Benedikt XVI. | |
persönlich betroffen gemacht und zu relativ scharfen Worten geführt haben – | |
aber er blieb dabei stets ein Mann des Apparates, der in dem Skandal mehr | |
an die Kirche dachte als an ihre Opfer. Mal davon abgesehen, dass er als | |
Chef der Glaubenskongregation viel früher als die meisten von den | |
Missbräuchen wusste. Die Einsicht in die Sprengkraft dieser Krise blieb ihm | |
fern. | |
## Ratzinger lebt von der Welt abgewandt im Gestern | |
Geradezu programmatisch für seine Kirchen- und Weltsicht waren für Joseph | |
Ratzinger die Freiburger Konzerthaus-Rede im September 2011, mit der er den | |
versammelten katholischen Laien ins Stammbuch schrieb, sie sollten sich | |
weniger in die Welt einmischen, als sie dies immer noch tun. Manche | |
Menschen haben an diesem Tag im Konzerthaus geweint. | |
Zum anderen war da Papst Benedikts Schreiben vom April 2012, in dem er den | |
deutschen Bischöfen vorschrieb, in ihren Bistümern durchzusetzen, dass bei | |
der Eucharistiefeiern zukünftig nicht mehr zu beten sei, Jesus sei „für | |
alle“ gestorben, sondern „für viele“. | |
Unter Benedikt XVI. verlor die Kirche ihre Nahbarkeit. Der weltabgewandte | |
Mann in Rom lebt nicht mehr im Heute, sondern im Gestern, in einer Welt, | |
die ihm vielleicht heil erschien, aber schon lange vergangen ist, verblasst | |
durch die Zeit wie ein spätantikes Christus-Mosaik in Ravenna. | |
## Der Mut für die neue Welt fehlt | |
Als Kardinal Ratzinger Anfang des Jahrtausends in Berlin in der bayerischen | |
Landesvertretung eine Rede über das christliche Erbe Europas hielt, war nur | |
den wenigsten klar, wie wegweisend für sein späteres Pontifikat diese Rede | |
war. Es war das Lob einer gedanklichen Welt, die seit Jahrhunderten nicht | |
mehr existiert und prägt. | |
Joseph Alois Ratzinger, der bayerische Professor auf dem Papstthron, wollte | |
das Beste für die Kirche und für die Welt. Doch ihm fehlte die Offenheit, | |
um das Schöne und Gute am Neuen zu erkennen. | |
Er klammerte sich an die Alte Welt, in die es ihn immer wieder zog, obwohl | |
im Süden des Globus die neue katholische Welt in Armut und Leidenschaft | |
entsteht. Man kann dies als Scheitern begreifen. Papst Benedikt XVI. blieb | |
immer im Alten stecken. Nur hier zeigte er Eifer und Wärme. Am Ende fehlte | |
ihm wohl einfach der Mut, sich der neuen Welt zu nähern. | |
11 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Robert Torck | |
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