# taz.de -- Verborgener Hunger: Satt sein genügt nicht | |
> Weltweit leiden 2,5 Milliarden Menschen an einer Unterversorgung mit | |
> lebenswichtigen Mikronährstoffen. Vor allem Kinder sind betroffen. | |
Bild: Mais macht zwar satt, aber die zum Leben notwendigen Mikronährstoffe lie… | |
BERLIN taz | Bei der Bekämpfung des Welthungers ist keine Verbesserung in | |
Sicht. Eigentlich wollten die [1][Vereinten Nationen (UN)] in ihren | |
„Milleniumszielen“ die Zahl der hungernden Menschen von 800 Millionen im | |
Jahr 1990 auf 400 Millionen bis 2015 halbiert haben. Tatsächlich ist ihre | |
Zahl aber im vergangenem Jahr auf über eine Milliarde angestiegen, Trend | |
weiter zunehmend. | |
Doch diese Zahl ist nur die halbe Wahrheit. Nach Abschätzungen des | |
Ernährungswissenschaftlers Hans Konrad Biesalski vom [2][Food Security | |
Center an der Universität Hohenheim bei Stuttgart] leiden weltweit 2,5 | |
Milliarden Menschen an einer chronischen Unterversorgung mit | |
lebenswichtigen Mikronährstoffen wie Zink, Eisen und Jod. | |
Biesalski spricht von einem „verborgenen Hunger“, der sich nicht in einem | |
knurrenden Magen äußert, aber doch vielfältige körperliche Negativfolgen | |
hat, vor allem bei Kleinkindern unter drei Jahren. | |
Mit einer [3][Publikation („Satt sein ist nicht genug“) und einem Kongress] | |
will der Wissenschaftler auf die unbeachtete Ernährungskatastrophe | |
aufmerksam machen, die nicht nur die armen Länder der „Dritten Welt“ | |
betrifft, sondern auch die ärmeren Bevölkerungsschichten in den reichen | |
Industriestaaten. | |
„Bei den Hilfsorganisationen wird der Hunger nur als quantitatives Problem | |
gesehen“, kritisiert Biesalski. Vor allem bei spektakulären Hungerkrisen | |
wird schnell energiereiche Nahrung mit ausreichend Fett, Eiweiß und | |
Kohlehydraten in die Notregionen gebracht. | |
## Sensor für Mikronährstoffe fehlt | |
Das Problem liegt darin, dass der menschliche Körper auf den Hungerimpuls | |
mit Energiezufuhr reagiert. „Er hat aber keinen Sensor für den Mangel an | |
Mikronährstoffen“, hebt der Ernährungsmediziner hervor. Diese Nährstoffe | |
sind in den Hilfslieferungen nur gering enthalten. Die Folgen sind | |
gesundheitliche Langzeitschäden. | |
Zu wenig Eisen führt zu Blutarmut und senkt die Immunschwäche, mit erhöhtem | |
Infektionsrisiko. Der Mangel an Vitamin A kann vor allem Kindern das | |
Augenlicht kosten. Ein Zinkdefizit begünstigt chronische Durchfälle. Zu | |
wenig Jod hemmt die geistige Entwicklung. | |
Im Schnitt, so haben Ernährungsmediziner überschlagen, sterben weltweit | |
jede Stunde 390 Kinder an den direkten oder indirekten Folgen des | |
verborgenen Hungers noch vor ihrem fünften Lebensjahr. Am schlimmsten wirkt | |
sich der Nährstoffmangel bei Kleinkindern in den ersten drei Lebensjahren | |
aus. Hier tritt das Phänomen des „Stunting“ auf, einer Wachstumshemmung des | |
gesamten Körpers. Die Kleinwüchsigkeit hält das ganze Leben lang an und | |
kann auch später mit besserer Nahrung nicht wieder aufgeholt werden. | |
## Kleinere Kinder | |
„In Westafrika haben 50 Prozent aller Kinder dieses Stunting“, berichtet | |
Biesalski. Aber nicht nur dort: Bei einer Untersuchung an 250.000 Kindern | |
in Brandenburg wurde festgestellt, dass der Nachwuchs aus ärmeren Familien | |
im Schnitt ein bis zwei Zentimeter kleiner war als die Gleichaltrigen aus | |
begüterten Schichten mit besserer Ernährung. | |
Stunting kann auch mit Übergewicht einhergehen, wie in Mexiko festgestellt | |
wurde. Die Kinder bekommen mit Mais, Öl und Hähnchen zwar ordentliche | |
Energieportionen, aber die Nährstoffe fehlen. Nur satt sein ist noch nicht | |
gesund. | |
Bedeutsam ist der Ernährungsmix. Im Kongo, so geht aus den Erhebungen der | |
UN-Welternährungsorganisation [4][FAO] hervor, decken Kinder ihre | |
Energiezufuhr von 1.650 kcal täglich zu 80 Prozent allein aus der | |
stärkehaltigen Wurzelknolle Cassava (Maniok) und aus Mais. Fleisch mit | |
seinen hohen Nährstoffgehalten ist nur mit einem Prozent dabei (16 kcal). | |
Die Folge: Jedes vierte Kind stirbt vor Erreichen seines fünften | |
Lebensjahres. | |
## Schlechte Prognose | |
Hinzu kommen Schäden bei der geistigen Entwicklung. Rund 200 Millionen | |
Kinder weltweit haben nach Schätzung Biesalskis durch Armut und | |
Mangelernährung „eine schlechtere kognitive und damit auch später | |
schlechtere berufliche Entwicklung“. In der Schule liegen ihre Leistungen | |
um bis zu zwei Noten unter denen der Mitschüler. | |
Eine Untersuchung in Ecuador fand heraus, dass der Sprachschatz von fünf | |
Jahre alten Kindern aus ärmlichen Familien um 40 Prozent geringer war als | |
der Nachwuchs der Bessergestellten. Eine falsche Ernährung füttert indirekt | |
die Armut. | |
Mit dem „verborgenen Hunger“ geht auch eine „verborgene“, nämliche feh… | |
Forschung einher. „Während die Mangelernährung bei Senioren ganz gut | |
untersucht ist, findet sie zu Kindern unter drei Jahren in Deutschland | |
praktisch nicht statt“, kritisiert Biesalski. | |
## Die Lobby fehlt | |
„Das Thema Übergewicht hat ins unserm Land eine enorme Lobby, das Thema | |
Mangelernährung keine“, gibt der Stuttgarter Ernährungswissenschaftler | |
selbst den Grund an für das Forschungsdefizit. | |
Auch aus diesem Grund hat Biesalski für den [5][6. bis 9. März 2013 zum | |
weltweit ersten internationalen Kongress über verborgenen Hunger] an seine | |
Universität eingeladen. „Einige der weltweit führenden Wissenschaftler auf | |
diesem Gebieten sind dann vor Ort“, kündigt Biesalski an. | |
Dabei soll es vor allem um die schnelle Verbesserung der | |
Mikronährstoffversorgung im frühkindlichen „1.000-Tage-Fenster“ gehen sow… | |
mittelfristig um die Entwicklung angereicherter Lebensmittel. | |
## Die vier Säulen | |
Insgesamt müssen Veränderungen an den „vier Säulen der | |
Lebensmittelsicherheit“ erreicht werden: die Verfügbarkeit von | |
Lebensmitteln durch Anbau vor Ort, der Zugang zu ihnen durch Transport und | |
Märkte, eine bessere Lebensmittelqualität durch mehr „Nahrhaftigkeit“ und | |
hoher Mikronährstoffdichte sowie die Beeinflussung der Lebensmittelpreise. | |
„Diese vierte Säule ist die sensibelste“, so Hans Konrad Biesalski, „denn | |
sie hat auf jede der drei anderen Säulen direkten Einfluss“. In Ländern, in | |
denen bis zu 80 Prozent des Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben werden | |
müssen, bleibt wenig Spielraum, wenn die Preise nach oben gehen. | |
An Lebensmitteln, die aus gentechnisch modifizierten Organismen (GMO) | |
gewonnen werden, hat der Hohenheimer Ernährungsmediziner indes geringe | |
Erwartungen. „Die Realität der GMO ist leider so, dass in erster Linie | |
Erträge das Ziel sind und nicht die Qualität“. | |
15 Feb 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.un.org/ | |
[2] http://fsc.uni-hohenheim.de/ | |
[3] http://fsc.uni-hohenheim.de/93440 | |
[4] http://www.fao.org | |
[5] http://fsc.uni-hohenheim.de/93440 | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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