| # taz.de -- Sängerinnen und Sirenen: Zum Sterben schön | |
| > Bei Homer wurden die Sirenen eingeführt, diese Zwitterwesen aus Vogel und | |
| > Frau. Was ist aus ihnen geworden? | |
| Bild: Popsirenen sind die etwas widerspenstigen Singvögelchen. | |
| Beinahe wäre es eine Sirene geworden. Kein Echo. Doch Oliver Renelt, | |
| Designer der Echo-Trophäe, war dann doch der Meinung, dass der Titel zu | |
| brutal sei für den deutschen Musikpreis. Wird mit diesem doch kommerzieller | |
| Gesangserfolg ausgezeichnet - und damit Gefälligkeit. Da wären die | |
| mythischen Zwitterwesen aus Vogel und Frau, die Seemänner mit ihrem Gesang | |
| betören, um diese dann zu Tode kommen zu lassen, ein falsches Zeichen | |
| gewesen. | |
| Und trotzdem: Das Bild von geradezu hypnotisierend schön singenden Sirenen | |
| taucht immer wieder auf. Madonna sei eine. Die bermudische Popsängerin | |
| Heather Nova benannte ein Album nach ihnen. Als Schurkin geistert die | |
| Sirene auch durch die "Batman"-Serie Mitte der sechziger Jahre. Sie | |
| versucht darin, mit ihrem schrillen Gesang die Macht über Gotham zu | |
| erlangen. | |
| Die Literaturwissenschaftlerin Helga Arend widmete sich vor ein paar Jahren | |
| in einem Aufsatz der „Frau als Vogel“ und befand: „Vögel stehen für den | |
| Bereich, der jenseits der erfahrbaren Realität liegt. So wie der Vogel | |
| diese Fremdheit versinnbildlicht, steht die Frau für das Andere | |
| schlechthin.“ Das Andere ist faszinierend, gleichzeitig bedrohlich. Andere | |
| Vogelfrauen wie die Harpyien, die Druden oder auch die Walküren sind auch | |
| nicht gerade die netten Frauen von nebenan. | |
| Gefährlich sind die Sirenen bei Homer, weil sie Persephone dienen, der | |
| Göttin der Unterwelt. Unterwelt und Unterbewusstes, das klingt ähnlich. | |
| Laut Horkheimer und Adorno sind die Frauen in dieser Geschichte deshalb | |
| schlecht, weil sie mit ihrer Weiblichkeit die Seefahrer anregen, ihrer | |
| eigenen „inneren Weiblichkeit“ nachzugehen. Würden sie dies tun, wäre das | |
| Ende tödlich. Sirenen lassen die Männer ihre Heimat und das Ziel ihrer | |
| Reise vergessen, sie werden irrational und schwach – weiblich also. | |
| Spätestens seit der Aufklärung gilt der Mann als Inbegriff von Kultur und | |
| Geistigkeit, während die Frau für Natur und Körperlichkeit steht. In ihrer | |
| „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben Adorno und Horkheimer, unter anderem | |
| am Beispiel der Sirenen, die Entstehung unserer modernen Gesellschaft durch | |
| die Abgrenzung zur als bedrohlich beschriebenen Natur. Homers Odysseus wird | |
| zum Inbegriff des bürgerlichen Individuums - das sich gegen die Natur | |
| behauptet. Und die Natur, die das Projekt der Aufklärung gefährdet? Das | |
| sind natürlich die betörenden Frauen im Vogelgewand. | |
| ## Die Frau als Gefahr | |
| Ähnlich manipulativ und letal ist auch der Gesang der Loreley bei Heinrich | |
| Heine: „Ich glaube, die Wellen verschlingen / Am Ende Schiffer und Kahn / | |
| Und das hat mit ihrem Singen / Die Lore-Ley getan.“ Von der „Sirene des | |
| Rheins“ und denen aus der Odyssee ist nicht mehr viel übrig geblieben. Im | |
| Duden steht sie als „schöne, verführerische Frau“ - ihrer tödlichen | |
| Gesangseinlage entledigt. Und sie ist zum schrillen Warnsignal verkommen. | |
| Der Sirenenruf war ein Lockruf und zog die Seemänner direkt an die Quelle | |
| der Gefahr. Die Warnsirene klingt unangenehm und soll die Menschen vor der | |
| Gefahr schützen, indem sie darauf aufmerksam macht. Das Regellose wurde der | |
| Sirene genommen, ein erschreckender Ton, der dazu aufruft, etwas wieder | |
| unter Kontrolle zu bringen, ist geblieben. | |
| Ein Aspekt, der definitiv die Jahrtausende überlebt hat, ist die | |
| Anziehungskraft der Sirenen. Während die Seemänner in den griechischen | |
| Mythen allein vom Zuhören Lust empfanden, wird der Sex dieser Tage über die | |
| Kleidung und eindeutig zweideutige Tanzeinlagen hergestellt. Auf den | |
| Musikbühnen dieser Welt haben noch immer die Frauen die kürzesten Hosen an. | |
| Am besten werden die Geschlechterklischees in Drag Shows deutlich. | |
| Während die Kings Anzug und Krawatte tragen, haben die Queens kaum etwas | |
| an, bedecken mit ihrer Federboa mitunter nur das Nötigste. Die Federboa | |
| wurde seit den 1920ern als eine Art Sex-Utensil von Tänzerinnen verwendet, | |
| die diese zwischen ihren Beinen hin und her bewegten. So wurde sie, | |
| übertragen gedacht, Teil einer Inszenierung von Weiblichkeit. | |
| Heute sind Federn und kleine Vögelchen eher ein träumerisches als sexuelles | |
| Accessoire, besonders für eine ganz harmlose Gruppe der Vogelfrauen: die | |
| Goldkehlchen. Sie haben zumeist eine angenehme Stimme, sind aber alles | |
| andere als bedrohlich, eine Art domestizierte Sirene. Auf der Bühne tragen | |
| sie auch mal ein sexy Dress, aber immer noch im Rahmen des guten Tons. | |
| Die Sängerin Taylor Swift ist so eine, als „Country-Küken“ wurde sie auch | |
| schon bezeichnet. Kleiner, niedlicher, kontrollierbarer geht es bald nicht | |
| mehr. Auch „My heart will go on“-Céline Dion oder Lana Del Rey reihen sich | |
| in diese Riege ein. Letztere, die erst letzte Woche zwei der Echo-Preise | |
| gewann, toupiert ihre Haare auch ab und an zur sogenannten Vogelnest-Frisur | |
| auf und zeigt sich auf dem Cover der Vogue ganz zahm mit kleinen Vögelchen | |
| auf der Hand. | |
| Diese Frauen stellen keine Bedrohung für die Männer dar, sind eher deren | |
| Spielball und recht gefällig. Sie trällern ein paar Lieder über Liebe und | |
| tun keinem weh. Wer seine Liebste Vögelchen, Täubchen oder Küken nennt, hat | |
| vermutlich eine flatterhafte, aber nicht sonderlich widerständige | |
| Partnerin. Auch Ausdrücke wie „bei dir piepts wohl“ oder „du hast einen | |
| Vogel“ lassen schließlich erkennen, was der Volksmund vom | |
| Intelligenzquotienten des Vogels hält. | |
| ## Brutal, nicht wohlgefällig | |
| Einen besonderen Platz hat Edith Piaf in der Geschichte der Vogelfrauen. | |
| Ihr Spitzname war zwar „der kleine Spatz“, aber das hatte in erster Linie | |
| mit ihrem Nachnamen zu tun, dem französischen Wort für Spatz. Sie gehört | |
| eher in die Reihe der Sirenen. Der Popsirenen zumindest. Das sind Frauen, | |
| die etwas störrischer sind als die Singvögelchen. Auch die frühe Madonna | |
| ist widerspenstig gewesen. | |
| In der New York Times wird sie Mitte der Achtziger als Sirene eingeführt, | |
| das war die Zeit, in der sie „Like a Virgin“ veröffentlichte und damit | |
| einigen konservativen Mitmenschen auf den Schlips trat. Ihre Stimme war | |
| nicht wirklich sanft und schön, sondern etwas schrill und schräg. Ähnlich | |
| ist es mit den „Pop-Sirenen“ Lady Gaga oder Björk oder der „Punk-Sirene�… | |
| Nina Hagen. Eine selbstbestimmte Musikerin ist der Sirene näher als dem | |
| Goldkehlchen. | |
| Die echten Sirenen, die sind allerdings verschwunden. Es gibt Frauen wie | |
| die US-amerikanischen Künstlerinnen Diamanda Galas und Meredith Monk, die | |
| mit ihrer Stimme in sirenenartige Gesänge verfallen, die von ganz tief nach | |
| ganz hoch wechseln, die radikal sind in ihrer stimmlichen Entgrenzung, | |
| brutal auch, dabei naturnah, nur eben nicht wohlgefällig. Doch wer kennt | |
| diese Frauen überhaupt und wer lässt sich von ihnen betören? | |
| Odysseus hatte die Vogelfrauen damals überlistet, indem er seiner | |
| Mannschaft mit Wachs die Ohren verstopfte und sich selbst an einen Mast | |
| binden ließ. Die bürgerliche Ordnung hat gewonnen. Der weiblichen | |
| Sexualität wurde ihre Bedrohlichkeit genommen. Stattdessen können wir sie | |
| nun gefahrlos konsumieren. | |
| 31 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gottschalk | |
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