Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Segregation in den USA: 70 Quadratmeilen Wahnsinn
> Städte, aus denen der Streit verschwunden ist: Die Segregation Amerikas
> schreitet voran. Beobachtungen in Wisconsin.
Bild: Klare Lagerbildung
„Es ist eine einzige Freakshow“ – das fällt Mike Herl, dem Vorsitzenden …
republikanischen Partei von Madison, Hauptstadt des Bundesstaats Wisconsin,
ein, wenn er über seine Stadt spricht. Herl erzählt dann, wie er früher als
Tourmanager der Rockbands Cheap Trick und Judas Priest durch die USA und
Europa gereist ist.
Das sei natürlich, konzediert er, ebenfalls eine „Freakshow“ gewesen, aber
immerhin: Das Leben mit divenhaften und die meiste Zeit zugedröhnten
Rockstars habe ihn auf alles vorbereitet. Nur deswegen halte er es
überhaupt aus mit all den liberalen Wirrköpfen, Anarchisten und
Sozialisten, die in der Universitätsstadt Madison tagtäglich eine „ganz
große Show“ veranstalteten. Und sagt dann noch den Satz, mit dem nicht nur
Konservative die Stadt beschreiben: Madison, das sei Mad City: „70
Quadratmeilen Wahnsinn, umgeben von der Wirklichkeit.“
Man kann den Mann vielleicht verstehen. Mike Herl hat einen schweren Stand.
Seine Partei hat in dieser Stadt nämlich rein gar nichts zu melden: Madison
ist eine extreme Hochburg der Demokratischen Partei. 2012 hat Barack Obama
in Dane County, das weitestgehend aus Madison besteht, 72 Prozent der
Stimmen erhalten. In manchen Bezirken kam Mitt Romney auf den dritten
Platz, hinter dem grünen Kandidaten. In Madisons Stadtrat sitzt kein
einziger Republikaner.
Städte wie Madison gibt es viele in den USA: Orte, aus denen der Streit
verschwunden ist, weil sie so homogen geworden sind, dass die
„Minderheiten“ verstummt sind oder die Stadt verlassen haben. In den 1970er
Jahren wohnte gerade einmal ein Viertel der Amerikaner in Countys, in denen
einer der beiden Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen mit zwanzig
Prozent Vorsprung oder mehr gewann; heute lebt über die Hälfte der
Amerikaner in solchen Hochburgen.
## In den 60er-Jahren zerbrach etwas in Amerika
Die USA sind politisch extrem polarisiert – aber einmal in seine
Einzelteile zerlegt, ist dieses für seine Diversität gerühmte Land oft eine
ziemlich homogene Angelegenheit. Erst recht gilt das für Wisconsin: einer
der wenigen Bundesstaaten, der für beide Parteien zu gewinnen ist.
Die Geschichte der Counties ist die einer langandauernden gegenläufigen
Entwicklung. Madison und das Nachbarcounty Waukesha waren zwar schon immer
verschieden, politisch allerdings nicht immer so weit voneinander entfernt
wie heute. In den 1950er Jahren hatten beide noch für den liberalen
Republikaner Eisenhower gestimmt. 1964 stimmte man hier wie dort gegen den
ultrakonservativen Senator Goldwater. Kurz danach zerbrach etwas in
Amerika. Der große Konsens ging Mitte der 1960er Jahre unwiderruflich zu
Ende.
In Madison wehte der Geist der neuen Zeit bald ziemlich widerstandslos.
Hier gingen sogar die etablierten protestantischen Kirchen auf Linkskurs –
ihre Pastoren predigten gegen den Vietnamkrieg, gegen soziale Ungleichheit
und wurden zu Fürsprechern der Schwulen- und Lesbenbewegung. Madison wurde
zum Mekka des Liberalismus. Das zieht wiederum Menschen an, die in Madison
ihre liberale Weltsicht verwirklicht sehen.
Alleine in der letzten Dekade sind in den USA ungefähr hundert Millionen
Amerikaner von einem County in ein anderes umgezogen. Dabei dürften die
allerwenigsten einen Wahlatlas konsultiert haben; der „Big Sort“ läuft
subtiler ab. Es geht um Lebensstile, um die richtigen Kirchen, Schulen und
Freizeitmöglichkeiten. In einem Land, in dem Ideologien erkennbar stark mit
Stil und Habitus verknüpft sind, hat das politische Konsequenzen.
Auch im konservativen Waukesha spielen Wanderungsbewegungen eine Rolle. Die
Leute im östlich davon gelegenen Milwaukee nannten diese Region bis in die
1950er Jahre hinein „Cow County“, weil dort mehr Kühe als Menschen wohnten.
Der amerikanische Traum vom Eigenheim trieb die Menschen hinaus, die
Grundstücke waren noch billiger und die Immobiliensteuern niedriger. Aber
es gab noch ein anderes Motiv: die zunehmende Entfremdung von einer Stadt,
die vorher Zuzug von Afroamerikanern aus dem Süden erfahren hatte. Sie
kamen wegen der Industriejobs im Norden; tragischerweise brachen diese Jobs
in den 60er Jahren allmählich weg.
## Failed City Milwaukee
Die sozialen Probleme in der City häuften sich, die Kriminalitätsraten
stiegen – die weiße Mittelklasse zog weg. Schließlich siedelten sich
zahlreiche Firmen direkt in Waukesha an. Das machte es den Republikanern
leicht, Waukesha als Trutzburg gegen die Verfehlungen der „failed city“
Milwaukee aufzubauen, in der ein zu großzügiger Wohlfahrtsstaat eine
„Kultur der Abhängigkeit“ geschaffen hätte. Auch Waukesha und Madison
wurden so zu Antipoden.
Jetzt könnte man einwenden, dass die geografische Homogenisierung der USA
letztlich nur Symptom, nicht Ursache der ideologischen Spaltung ist. Und
was spricht dagegen, dass immer mehr nur mit Gleichgesinnten verkehren und
Konflikten aus dem Weg gehen? Das Problem ist, dass Gesellschaften, deren
politische Lager verlernt haben, miteinander zu reden, irgendwann Probleme
bekommen.
## Ideologische Selbstselektion
Homogene Gruppen neigen stets zur Polarisierung. In ihnen gibt es keine
soziale Prämie mehr für Moderation und Mäßigung. Belohnt wird einzig die
Zuspitzung der bereits bestehenden Position. Gruppen ohne Dissens
funktionieren wie Echokammern: Jede bestehende Meinung wird verstärkt, kaum
eine in Frage gestellt.
Im Grunde ist diese ideologische Selbstselektion der Amerikaner eine
merkwürdige Verdrehung von allem, was die Hauptströmung immer noch
deutungsmächtiger Theorien gesellschaftlichen Wandels voraussetzt. Haben
wir nicht stets geglaubt, dass hochgradig individualisierte und in diesem
Sinne „moderne“ Gesellschaften keinen guten Nährboden für die Entstehung
und Bewahrung kollektiver Identitäten abgeben?
Aus dieser modernisierungstheoretischen Perspektive ist das Zerbröseln der
alten Weltanschauungsparteien Europas wenig verwunderlich, da sie eben
nicht mehr die Träger eigenkulturell organisierter Teilgesellschaften sind,
die ihre Lebenswelt beinahe unlösbar mit der Ideologie einer Bewegung
verknüpft hatten. Diese Vermutung klingt einleuchtend; es scheint für
europäische Gesellschaften hohe Plausibilität zu besitzen.
Das Problem ist nur, dass es in der vielleicht individualisiertesten
Gesellschaft ganz anders gekommen ist: Denn in Wisconsin und anderswo in
den USA haben die Bürger die gesteigerten Möglichkeiten zur Autonomisierung
der eigenen Lebensführung zur Selbstbeschränkung eingesetzt. Es sind gerade
die wohlhabenderen und gebildeteren Bürger, also jene, die überhaupt über
die Ressourcen zur individuellen Optionserweiterung verfügen, die sich an
diesem inneramerikanischen Kulturkampf beteiligen – und zwar auf beiden
Seiten der Barrikade. Eine Art paradoxer Individualisierung: Man wählt,
nicht ständig die Wahl zu haben.
13 Apr 2013
## AUTOREN
Torben Lütjen
## TAGS
taz.gazete
Demokraten
Republikaner
Amerika
Republikaner
USA
USA
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte US-Republikaner: Keine Rettung mit Ryan
Die Republikaner müssen sich entscheiden, wie sie auf den Wandel in den USA
reagieren wollen: Mit radikaler Selbstisolation oder innerer
Modernisierung.
Obamas Haushaltspläne: Der „Mittelschichts“-Präsident
Barack Obama will Steuererhöhungen für Reiche trotz der zu erwartenden
Blockadehaltung durchsetzen. Auch in anderen Bereichen gibt er sich
kämpferisch.
Analyse der US-Präsidentenwahl: „Veränderte Demografie – na und?“
Obama habe nicht nur dank der Minderheiten gewonnen, sagt der Journalist
Marco D'Eramo. Dessen Unterstützer könnten auch sehr schnell republikanisch
wählen.
Wirtschaftspolitik in den USA: In der Blockadefalle
Barack Obama muss mit Staatsausgaben die Wirtschaft ankurbeln. Das mahnende
Beispiel Europa könnte auch die Republikaner überzeugen, die bisher alles
abblockten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.