# taz.de -- Vorabdruck aus „Die elfte Plage“: „Touristen fisten“ immer … | |
> Berlin-Besucher verwechseln die Stadt mit einem Erlebnispark, sie werden | |
> beschimpft, beworfen, gehasst. Ihre Feinde sind aber nicht viel besser. | |
Bild: Das Holocaustdenkmal, ein beliebter Ort zum Entspannen, den Touriführer … | |
Die Bibel kennt zehn Plagen, Berlin kennt viele Plagen. Eine der lästigsten | |
ist der Berlin-Tourist. Er gehört zu Berlin wie Ben Becker, die B. Z., | |
Baupleiten, der Potsdamer Platz, Schultheiss-Bier oder Claus Peymann: nicht | |
schön, aber unvermeidlich. | |
Tagsüber belästigen Berlin-Touristen andere Verkehrsteilnehmer und kurven | |
auf Bier-Bikes um das Brandenburger Tor. Fröhlich und ohne sich den Appetit | |
verderben zu lassen, picknicken sie am Denkmal für die ermordeten Juden. | |
Mit kindlicher Freude bestaunen sie Straßencafés und Punks, Altbauten, | |
Schaufenster und das Bundeskanzleramt. | |
Gerne stehen Berlin-Touristen auch auf Radwegen und wundern sich über die | |
Radfahrer. Natürlich ohne auf die Idee zu kommen, beiseitezutreten. Selbst | |
die Benutzung der U-Bahn übersteigt ihre Fähigkeiten. Dann stehen sie | |
palavernd vor dem rätselhaften Fahrkartenautomaten. Vielleicht halten sie | |
ihn für eine Sehenswürdigkeit. Nachts sorgen erlebnisorientierte Touristen | |
für Arbeitsplätze in Gastronomie und Drogenhandel. | |
Wer einmal enthemmte Berlin-Touristen in den späten Abendstunden in einem | |
U-Bahn-Waggon oder der Straßenbahn erleben durfte, weiß, dass es sich bei | |
dieser Spezies um das von der Evolutionsbiologie lange gesuchte Missing | |
Link zwischen Primaten und Homo sapiens handeln muss. Berlin-Touristen | |
verwechseln die Stadt mit einem Erlebnispark, das Nachtleben mit dem | |
Ballermann und die Eingeborenen mit pittoresken Deko-Elementen. | |
Möglicherweise ja zu Recht. | |
## Helenes geile Berghain-Prosa | |
Berlin-Touristen leiden unter dem fatalen Hang, mit der Ankunft am Ziel | |
ihrer Reise Höflichkeit und Verstand zu ignorieren, um sich der fröhlichen | |
Regression hinzugeben, am liebsten lautstark. Sie haben irgendwo gehört, | |
Berlin, dieses gemütliche Dorf, sei ein Ort der unglaublichsten | |
Ausschweifungen. Vielleicht haben sie zu viel Spiegel TV gesehen oder | |
verwechseln Helene Hegemanns Berghain-Prosa aus Versehen mit Literatur. | |
Also machen Berlin-Touristen zwecks Anpassung an die örtlichen Sitten und | |
Gebräuche ganze Straßenzüge unbewohnbar, indem sie sie als | |
Freiluft-Ausschank okkupieren. Berlin-Urlaub bedeutet für den | |
Erlebnistouristen offenbar auch Urlaub vom Ich und der heimischen sozialen | |
Kontrolle. | |
„Der Reisende nimmt sich ja stets einige Freiheiten heraus, er pflegt für | |
kurze Zeit jedenfalls ein kleines Ausnahme-Ego. Und ist in seinen | |
Einsatzgebieten zwangsläufig eine Zumutung für andere“, seufzt der Berliner | |
Kulturwissenschaftler Joseph Vogl im Gespräch mit dem Journalisten Thomas | |
Steinfeld. Dass Berlin dem touristischen Ausnahme-Ego besonders großzügig | |
Auslauf bietet, dürfte einer der Hauptgründe für den Boom dieser | |
Tourismus-Destination sein. | |
Mindestens so seltsam wie Berlin-Touristen sind Touristen-Hasser. Seit | |
einiger Zeit wollen Kreuzberger, die selbst vor Jahren aus der Provinz | |
zugewandert sind, ihren Stadtteil vor touristischer Überfremdung schützen. | |
Zu diesem Zweck sprayen sie in deutscher Tradition „Touristen raus“ an die | |
Wände. | |
## „Kriminelle Touristen abschieben“ | |
Die Partei „Die Partei“ parodierte die Xenophobie des Kreuzberger | |
Heimatschutzes zielsicher mit einem Wahlkampfplakat: „Kriminelle Touristen | |
abschieben.“ Auf einer Anwohnerversammlung zum Thema, zu der die | |
Kreuzberger Grünen geladen hatten, forderten aufgebrachte Kreuzberger allen | |
Ernstes, eine „Bannmeile“ um ihren Bezirk zu ziehen, auf dass die böse, | |
große, bedrohliche Welt da draußen mit ihren Touristen doch bitte draußen | |
bleiben möge. Auch die Parole „Touristen fisten“ erfreut sich an Berliner | |
Häuserwänden zunehmender Beliebtheit. Die Forderung ist so takt- wie | |
sinnlos. | |
Schon weil nicht wenige Touristen genau zu diesem Zweck anreisen. Die | |
provinziellen Kreuzberger Ressentiments gegen Fremde sind die Folge einer | |
aggressiven Überidentifikation der Zugereisten mit ihrem Siedlungsgebiet. | |
Das kann uncharmante Folgen haben, wenn alternative Spießer jeden, der | |
nicht so schluffig durchs Leben trottet wie sie, für einen Agenten der | |
Gentrifizierung halten: | |
„Freunde von uns sind im Görlitzer Park mit Flaschen beworfen und als | |
Touristen beschimpft worden, nur weil sie etwas schicker angezogen waren. | |
Es gibt in jedem Fall eine virulente Gefahr, dass sich die Angriffe auf | |
Hipster, Touris und Zugezogene radikalisieren. Der ein oder andere kommt | |
vielleicht auf die Idee, ein neues Hotel einfach mal anzuzünden“, glauben | |
Aktivisten der „Hipster Antifa Neukölln“. | |
Als spöttische Gegenreaktion auf die Heimatschutz-Bemühungen fordert die | |
gutgelaunte „Hipster Antifa Neukölln“ ausdrücklich „mehr Soja Latte, Wi… | |
und Bioläden“ im Problembezirk. | |
## Kreuzberger Aufgeregtheiten | |
Das ist das Schöne an Kreuzberg: Selbst die eher banale Frage, ob Touristen | |
eine Zumutung oder vielleicht einfach nur Kunden sind (wir vermuten: | |
beides), wird zum ideologischen Konflikt, bei dem es schnell mindestens um | |
die Weltrevolution geht. Aber in den Kreuzberger Aufgeregtheiten spiegelt | |
sich, stark vergrößert, das Unbehagen und Konfliktpotenzial, das entsteht, | |
wenn sich eine Stadt partiell zum Touristen-Resort macht. | |
Dieser Text besichtigt die Berlin-Touristen im Vorübergehen, also genau so, | |
wie der Tourist die Stadt besichtigt: willkürlich, ungerecht, dem Zufall | |
vertrauend und natürlich ohne Anspruch auf endgültige, gar objektive | |
Wahrheiten. Tourismus-Hasser sind dem Autor so suspekt wie Touristen. Er | |
verfolgt keine Thesen und will nichts beweisen. Aber er interessiert sich | |
für die Beobachtung, dass der Tourismus die Stadt gerne als Bühnenbild, als | |
Kulisse, als Fassade bespielt. | |
Wer am Berlin-Tourismus verdienen will, liefert die vom Berlin-Besucher | |
erwarteten Bilder der Stadt. Sei es die Kulisse einer wilden | |
Kreativmetropole, eines modernistischen Hochhaus-Areals oder eines | |
historischen Berlins. Wovon die Theateravantgarden seit Meyerhold bis hin | |
zu Matthias Lilienthals theatralischen Berlin-Exkursionen („X Wohnungen“) | |
und der Site Specific Art unser Tage geträumt haben, ist längst Realität: | |
Dem touristischen Blick ist die Stadt selbst zur Bühne geworden. | |
## Die Stadt als Bühne | |
Ob beim Projekt, das Fake-Remake einer preußischen Schlossfassade zu | |
errichten, ob in der Berghain-Erlebnisgastronomie oder bei öffentlichen | |
Massen-Events aller Art – das Tourismus-Spektael dient als Erlebnisangebot | |
für die zahlenden Gäste. Wenn die Stadt zur Bühne und zur Kulisse der | |
Erlebnisindustrie wird, bleiben für die Menschen, die in dieser Stadt leben | |
und sie altmodischerweise lieber für eine Stadt als für einen Freizeitpark | |
halten würden, Risiken und Nebenwirkungen nicht aus. | |
Das ist kein Grund für kulturpessimistische Klagegesänge. Der | |
Berlin-Tourist ist auch nur eine bizarre Berliner Sehenswürdigkeit, Stoff | |
für verwunderte Beobachtungen. Der einzige Sinn dieses Buches ist | |
selbstverständlich der gleiche, der auch die mobilen Würstchenverkäufer am | |
Alexanderplatz, den Regierenden Bürgermeister und andere Servicekräfte dazu | |
bringt, sich Touristen zu widmen, statt dem natürlichen Impuls zu folgen | |
und diese lärmenden, seltsamen Leute zu ignorieren. | |
Wir wollen am Tourismus-Boom mitverdienen. Indem wir Touristen beleidigen. | |
Berlin-Touristen mögen das. Sonst würden sie sich ja schönere Reiseziele | |
aussuchen. | |
Peter Laudenbach: „Die elfte Plage. Wie Berlin-Touristen die Stadt zum | |
Erlebnispark machen“. Edition Tiamat. 144 Seiten, 13 Euro. Erscheint am 23. | |
April. | |
23 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Peter Laudenbach | |
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