# taz.de -- Gerbrauchsanweisung 1. Mai in Hamburg: Vier Bier für ein Hallelujah | |
> Der Start des KirchentagS geht nahtlos in die traditionellen Maikrawalle | |
> in Hamburgs Schanzenviertel über. Ein kleiner Überblick. | |
Bild: Sicher ist: der Krawall kommt. Warum, das weiß niemand mehr so ganz gena… | |
Fischmarkt, Der | |
Ob’s wegen Petrus und seiner Seelenfischer-Kollegen ist? Jedenfalls beginnt | |
der Kirchentag [1][auf dem Altonaer Fischmarkt]. Eine eher schwache | |
Anspielung, denn die backsteinerne Fischauktionshalle ist seit Jahrzehnten | |
eine Eventlocation. Und auf dem Fischmarkt gibt es schon lange | |
Zimmerpflanzen und Bananen; vor ein paar Monaten hat der letzte Hamburger | |
Hochseefischer, der hier seinen Fang frisch vom Kutter verkaufte, die Segel | |
gestrichen. | |
Schon bevor hier mit Blick auf die Docks von Blohm & Voss einer der vier | |
Eröffnungsgottesdienste „mit skandinavischer Note“ beginnt (17 Uhr), loten | |
an selber Stelle Kirchen und Gewerkschaften ihre Gemeinsamkeiten aus, Motto | |
„Soviel Gerechtigkeit du brauchst“. | |
Es ist schließlich der 1. Mai, Kampftag der Arbeiterklasse und ihrer | |
vermeintlichen wie tatsächlichen Alliierten, vom DGB über den „Schwarzen | |
Block“ bis zum neuen Prekariat. Natürlich haben sie alle ihre eigenen | |
Maidemos. Einig ist man sich in Hamburg nur darüber, dass der 1. Mai im | |
Schanzenviertel endet, und zwar mit brennenden Barrikaden, Wasserwerfern | |
und fliegenden Flaschen, bitteschön. | |
Hafenstraße, Die | |
Den Weg dorthin kann man vom Fischmarkt gut zu Fuß machen – vorbei an den | |
Häusern [2][der St. Pauli Hafenstraße]. In prominentester Lage, hoch am | |
Geesthang überm Elbufer, gehören sie immer noch zu den Sehenswürdigkeiten, | |
eine Pflicht der Anschauung praktischen Widerstands. Leicht zu | |
identifizieren: Gründerzeithäuser im autonomen Chic, neu bewohnt. Ihr | |
sichtbarstes Zeichen ist allerdings eines ex negativo: Die | |
Hafenstraßenhäuser, die in den Achtzigern erkämpft wurden, sehen nicht so | |
gentrifiziert, farblos, kalt aus. | |
Schon vor 18 Jahren war diese Häuserzeile auf dem Kirchentag in Hamburg die | |
für ChristInnen attraktivste. Sie war ein Zeugnisband der Rebellion gegen | |
eine Stadt, die immer teurer wird. Herzlich willkommen – sie sind noch da. | |
Und somit der Beweis, dass das Kämpfen für das Bessere sich lohnt. | |
Rote Flora, Die | |
Von den Hafenstraßen-Häusern geht es quer durch St. Pauli zum Neuen | |
Pferdemarkt. | |
Hier beginnt das Schanzenviertel, oder wie man kurz sagt: „die Schanze“, | |
winzig klein, zwischen Stresemannstraße und Schanzenstraße gelegen; einst | |
Schlachthofarbeiter-, dann Ausländerviertel, in den Achtzigern | |
Alternativquartier und Geburtsort der anarcho-christlichen Jugendbewegung | |
„Jesus Freaks“, heute durchgentrifziertes Bessserverdienerareal mit | |
Szenechic. | |
Zentrale Achse ist ein Boulevard namens Schulterblatt, einst eine | |
Prachtstraße für die niederen Stände. Hier liegt auch der | |
Kristallisationspunkt aller Bewegung: [3][die Rote Flora]. Der | |
schmutziggelbe Überrest eines alten Varietétheaters, Zentrum der autonomen | |
Linken, ist seit 1989 besetzt und laut Eigendarstellung „unverträglich“. | |
Daran hat auch nichts geändert, dass die Stadt die Problemimmobilie 2001 an | |
einen Immobilienspekulanten verscherbelte. | |
Der schliddert inzwischen am Rand der Pleite und würde die Ruine im | |
inzwischen aufgeschickten Viertel nur zu gern mit Gewinn wieder abstoßen. | |
Kann er aber nicht, weil im Grundbuch steht, dass es Stadtteilkulturzentrum | |
bleiben muss. Und so finden hier weiterhin politische Veranstaltungen, | |
Konzerte und vor allem jede Menge Benefizpartys zur Finanzierung linker | |
Aktivitäten statt. | |
Und natürlich endlose Plenumssitzungen zu allem und jedem, kollektives | |
Motorradschrauben, Fahrradbasteln oder die vegane Volksküche. Lecker | |
geworden? Reingehen geht aber nicht – auch der Seiteneingang bleibt am 1. | |
Mai geschlossen. Zu groß das Risiko, dass, wenn nachts die Stimmung steigt, | |
verpeilte Krawallos sich nach Steinwurf ins vermeintliche | |
Randaliererrefugium zurückziehen wollen – und der Polizei einen perfekten | |
Anlass liefern, ihnen in diese Ordnungshüter-no-go-Zone notfalls mit Gewalt | |
zu folgen. | |
Piazza, Die | |
Der wahre Feind sitzt aber gegenüber der Flora. Seit die Stadt Parkbuchten | |
für Gastronomieflächen plattgemacht und das Label „Piazza“ | |
drübergeschrieben hat, ist dieses Stück Schulterblatt ab sieben Grad | |
Celsius allabendlich übervoll, wochentags mit Vorstädtern, am Wochenende | |
gern mit Dänen. Man steht draußen, trinkt Bier und lässt sich beim Anblick | |
der abgerockten „Flora“ Schauer über den Rücken laufen. | |
Die Demarkationslinie bilden ins Pflaster eingelassene Granitquader, auf | |
denen „A | H“ steht. Das steht nicht für „Autonome“ und „Hedonisten�… | |
sondern für „Altona“ und „Hamburg“. Alte Schanzenviertel-Bewohner spre… | |
despektierlich vom Galão-Strich, was einen Hinweis auf die „Schuldigen“ an | |
diesem Kontakthof für Jungerwachsene gibt: In den achtziger Jahren | |
schafften Bäcker aus dem nahen Portugiesenviertel am Hafen den Sprung in | |
die Schanze und rollten mit ihrer Version von Milchkaffee und Gebäck | |
(Pastéis) die Gastronomie des Viertels auf. | |
Krawall, Der | |
[4][Sicher ist nur: Er kommt.] Warum, das weiß niemand mehr so ganz genau. | |
Mittlerweile scheint er dem Ort eingeschrieben, bei wechselndem Personal. | |
Waren es vor Jahrzehnten noch die Autonomen aus dem Stadtteil selbst, für | |
die der 1. Mai ein alljährlicher Anlass für eine Kraftprobe mit der Polizei | |
war, sieht man inzwischen gestandene Aktivisten der Roten Flora im Verein | |
mit genervten Anwohnern brennende Barrikaden löschen. | |
In den letzten Jahren waren es wohl vor allem „erlebnisorientierte | |
Jugendliche“, die sich das Randaleritual zu eigen gemacht hatten. Strittig | |
ist nur die Deutung: Während die autonomen Cheftheoretiker die Ausbrüche | |
als „politisch“ adeln wollten, brüllen viele Anwohner mittlerweile nur | |
noch: „Haut ab! Zündet doch eure eigenen Vorstädte an!“ | |
Der Ablauf ist so: Am frühen Abend wird ein Lagerfeuer vor der Flora | |
angezündet, irgendwann kommt die Polizei mit Wasserwerfern vom Pferdemarkt | |
das Schulterblatt hoch, spritzt, knüppelt – und wird mit einem Hagel aus | |
Steinen und Flaschen empfangen. Wer jetzt nicht weg ist, ist mittendrin und | |
wird es eine Zeit lang bleiben, denn das Viertel ist abgeriegelt. Am | |
besten, man gesellt sich zu den Gaffern auf der Piazza, die es sich schon | |
auf alten Sofas bequem gemacht haben, kauft sich ein Bier und gafft mit. | |
Jan Kahlcke, 45, ist Redaktionsleiter der taz.nord | |
30 Apr 2013 | |
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