| # taz.de -- Debatte Krankenversicherung: Ab in die Bürgerversicherung | |
| > Die medizinische Technik Krankheitsrisiken vorherzusagen, macht starke | |
| > Fortschritte. Es droht eine „unversicherbare Klasse“. | |
| Bild: Behandlung nur noch bei geringem Risiko? | |
| Für Versicherungen gilt ein klarer Grundsatz: Sie versichern Risiken, aber | |
| keine Gewissheiten. Anders gesprochen: Ein brennendes Haus lässt sich nicht | |
| mehr gegen Feuer versichern. Und ein Haus, von dem man weiß, dass es in | |
| zehn Jahren brennen wird, lässt sich nur zu hohen Prämien gegen Feuer | |
| versichern. Der Wert des Hauses muss durch die Prämien in zehn Jahren | |
| angespart sein – zuzüglich Kosten und Gewinn für die Versicherung. | |
| Genauso verhält es sich bei der privaten Krankenversicherung. Wenn eine | |
| Krankheit eingetreten ist, kann man sie bei Vertragsabschluss nicht oder | |
| nur zu höheren Prämien privat versichern. Die Prämien müssen die Kosten für | |
| die Behandlung der bereits vorhandenen Erkrankung abdecken. Und wenn ein | |
| Bürger weiß, dass eine bestimmte Krankheit in zehn Jahren bei ihm eintreten | |
| wird, dann wird die private Krankenversicherung das Gleiche tun wie beim | |
| Hausbesitzer: Sie wird die Prämie bei Vertragsabschluss so erhöhen, dass | |
| die Kosten für die Behandlung in den nächsten zehn Jahren angespart werden. | |
| Bei einer schweren zu erwartenden Erkrankung können sich die meisten Bürger | |
| eine private Krankenversicherung nicht mehr leisten. Der Bürger steht bei | |
| einer Untersuchung, die zukünftige Erkrankungen diagnostizieren kann, vor | |
| einem Dilemma: Entweder ist er evtl. nicht mehr privat versicherbar, oder | |
| er verzichtet auf die prädiktive Untersuchung. Dann blieben ihm eine | |
| mögliche Vorbeugung und frühzeitige Behandlung versagt und er kann seine | |
| Lebenspläne nicht im Wissen um seine Krankheit gestalten. | |
| ## Wenn aus Risiko Gewissheit wird | |
| Es droht eine „uninsurable social underclass“. Würde man diesen Bürgern b… | |
| Ablehnung oder zu hohen Prämien der privaten Versicherer Zugang zu den | |
| gesetzlichen Krankenkassen ermöglichen, wäre ihnen zwar geholfen. Doch die | |
| privaten Versicherer hätten sich einmal mehr die „guten“ Risiken | |
| herausgepickt und die „schlechten“ Risiken der gesetzlichen Krankenkasse | |
| überlassen. Zum Vorteil für wohlhabende Gesunde, denn die können sich | |
| günstig in der privaten Kasse versichern, zum Nachteil für den Rest und | |
| damit für die meisten Bürger. | |
| Die Medizin hat in den letzten Jahren Fortschritte bei der Vorhersage von | |
| Krankheiten erzielt. Sie kann zahlreiche Krankheiten vor Ausbruch der | |
| ersten klinischen Symptome diagnostizieren. Das gelingt zum großen Teil | |
| über die genetische Diagnostik, aber auch über verbesserte nichtgenetische | |
| Diagnostik. Es steht zu erwarten, dass der Fortschritt in der prädiktiven | |
| Medizin weiter voranschreiten wird. | |
| Wenn aus einem Risiko Gewissheit wird, müssen die privaten Versicherungen | |
| so reagieren wie beschrieben. Wenn nicht oder wenn nur der Bürger weiß, | |
| dass er an einer schweren Erkrankung leiden wird, und dies den | |
| Versicherungen vor Vertragsabschluss verschweigt, kommt es zur sogenannten | |
| negativen Selektion: Bürger mit Gewissheit einer Erkrankung lassen sich | |
| diese als Risiko versichern und zahlen weniger in die Versicherung ein, als | |
| sie bekommen werden. Wenn sich diese Fälle häufen, und damit ist zu | |
| rechnen, scheitert die Prämienkalkulation der Versicherer. | |
| ## Tests auf Risiken: teilweise verboten, teilweise erlaubt | |
| Das Gendiagnostikgesetz verbietet die Nutzung von Wissen aus Gentests durch | |
| die Krankenversicherungen und begrenzt die Nutzung bei der | |
| Pflegerentenversicherung auf Verträge von unter 30.000 Euro pro Jahr. Doch | |
| „normale“, also nicht genetische Untersuchungen, die Krankheiten | |
| vorhersagen können, werden vom Gesetz nicht erfasst. | |
| Zudem dürfte das Gendiagnostikgesetz unter Druck geraten, wenn in der Folge | |
| einer negativen Selektion die Prämienkalkulation der Versicherer versagt. | |
| Man darf nicht darauf vertrauen, dass das Gendiagnostikgesetz für alle | |
| Zeiten unantastbar ist. | |
| Je mehr Risiken durch prädiktive Diagnostik zur Gewissheit werden, umso | |
| schwieriger wird es, betroffene Menschen privat gegen Krankheit zu | |
| versichern. Für dieses Problem gibt es eine einfache und umfassende Lösung: | |
| die Bürgerversicherung. Sie unterlässt, wozu private Versicherer gezwungen | |
| sind, nämlich die individuelle Risikokalkulation. | |
| Sie muss jeden Bürger aufnehmen, und dann ist es egal, ob der Bürger weiß, | |
| dass er in Zukunft an einer schweren Erkrankung leiden wird oder nicht. Und | |
| jeder Bürger kann die Vorteile der prädiktiven Diagnostik nutzen, ohne | |
| befürchten zu müssen, nicht mehr versicherbar zu sein. Es gibt zahlreiche | |
| Argumente für eine Bürgerversicherung. Die wachsende prädiktive Medizin ist | |
| ein weiteres Argument – sie macht die private Krankenversicherung zum | |
| Auslaufmodell. | |
| 8 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Urban Wiesing | |
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