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# taz.de -- Berlinale-Sieger über Rumänien: „Was ich erzähle, ist universa…
> Für „Mutter und Sohn“ erhielt Calin Peter Netzer den Goldenen Bären. Ei…
> Gespräch über Rumänien, den Filmstar Luminita Gheorghiu und die
> Radikalität der Form.
Bild: Nicht das beste Verhältnis haben die Mutter Cornelia (Luminita Gheorghiu…
Ein Vorfall in Bukarest: Die Bühnenbildnerin Cornelia wird durch einen
Anruf aus einer Musiktheaterprobe geholt. Ihr Sohn Barbu hat einen Unfall
verursacht, ein Junge aus einer Familie „einfacher Leute“ ist ums Leben
gekommen. Sofort beginnt Cornelia mit ihren Interventionen. Sie will Barbu
unter allen Umständen vor den Folgen seines Fehlers bewahren.
Und so entfaltet Calin Peter Netzer in seinem Film „Mutter und Sohn“, für
den er im Februar den Goldenen Bären der Berlinale gewann, ein Netz von
Abhängigkeiten, Rücksichtnahmen, Beziehungen, aus denen sich ein komplexes
Bild der rumänischen Gesellschaft ergibt.
taz: Herr Netzer, Ihr Film beginnt mit einem Gespräch zwischen zwei Frauen,
und dann einem Fest. Ist das die heutige rumänische Elite, der Cornelia
angehört?
Calin Peter Netzer: Cornelia ist, so wie ich sie sehe, nicht wirklich Teil
der Elite. Sie ist Architektin, ihr Mann ist Arzt. Sie wäre gern Teil der
Oberschicht, und sie schmückt sich mit Kontakten zur Elite. Das sind die
Kontakte, die sie haben will. Und sie kann es sich leisten, ihrem einzigen
Sohn eine übergroße Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Dieses Milieu sieht man eher selten im rumänischen Kino, das ja in den
letzten zehn Jahren große Erfolge zu verzeichnen hatte. Man spricht von
einer „Neuen Welle“, wie bei der berühmten Nouvelle Vague in Frankreich.
Genau, und eben dies war mir wichtig. Ich wollte eine Geschichte, die
einmal nicht in den ärmlichen Umgebungen spielt, die für diese Filme
charakteristisch sind. Was ich erzähle, ist im Grunde universal, könnte
überall passieren.
Hatten Sie von Beginn an vor, mit Luminita Gheorghiu zu arbeiten, die ja in
Rumänien ein großer Star ist?
Beim Schreiben haben wir an sie gedacht, danach habe ich allerdings noch
einmal ein Casting gemacht. Ich wollte vielleicht ein frischeres Gesicht
haben. Luminita hat in so vielen Filmen von der jüngeren Generation des
rumänischen Kinos mitgespielt. Aber im Casting war sie die weitaus Beste.
Für die Dreharbeiten wollte ich Luminita dann äußerlich ein wenig
verändern. Es war schwierig, sie in diese soziale Welt zu versetzen, das
war ein wenig ein Kampf mit ihr. Sie wollte das, war aber auch zögerlich,
etwas anderes zu machen. Wir haben ein halbes Jahr darüber gesprochen.
Sie hätte gern weiterhin diese Anna-Magnani-Figuren gespielt, für die sie
bekannt ist?
Ja, weil sie damit sehr vertraut ist. Sie nimmt alles sehr ernst, möchte
keinen Flop riskieren. Sie macht eher wenige Filme, dann engagiert sie sich
aber hundertprozentig.
War sie persönlich distanziert gegenüber der Figur der Cornelia?
Da bin ich mir nicht so sicher. Bis heute glaubt sie, dass Cornelia recht
hat. Das zeigt wiederum, wie sehr sie sich auf die Rolle eingelassen hat.
Der Film ist so erzählt, dass auch wir dazu gebracht werden, uns auf diese
Frau einzulassen.
Das war die Idee: Cornelia zu verstehen. Barbu natürlich auch, und die
pathologische Geschichte zwischen ihnen. Die Herausforderung war, die ganze
Backgroundgeschichte zu zeigen, warum sie an dem Punkt sind, an dem sie
sind. Es war die Wette des Films, keine von den beiden Figuren zu
diskreditieren.
Die Szenen mit der Polizei sind sehr aufschlussreich. Wir sehen da jede
Menge Facetten gelingender und misslingender Institutionalität.
Die Polizei funktioniert inzwischen ein schon bisschen besser in Rumänien,
aber von der Politik her ist es immer noch ein totales Chaos. Es ist ein
Spektakel. Es passieren Sachen, die ich wirklich nur sehr schwer verstehe.
Man wird nicht satt, das zu beobachten. Vor 10, 15 Jahren hätten sich
manche Szenen, wie ich sie zeige, nicht so zugetragen. Die Sache wäre
damals sehr schnell geklärt worden, zugunsten von Cornelia und Barbu. Jetzt
zeigen die Polizisten am Anfang ihre Prinzipien, erst danach werden sie
flexibel. Das finde ich schon interessant: wie sich die Moral von Menschen
schrittweise verändert, wenn man nur ein wenig Druck macht.
Es gibt eine wichtige Szene, in der Cornelia den Eltern des Unfallopfers
gegenübersitzt. Wir sehen dabei Schauspiel auf mehreren Ebenen: die Mutter
spielt, Luminita Gheorghiu spielt, es ist ihr großer Auftritt. Worauf kommt
es da beim Drehen an?
Natürlich ist Cornelia in diesem Moment darauf eingestellt, dass sie etwas
spielt. Für uns ist die Ambivalenz wichtig. Ist sie ehrlich? Ich glaube, am
Schluss ist sie ehrlich, weil das die einzige Chance ist, ihren Sohn
irgendwie frei zu kriegen. Sie spricht über Barbu, sie spricht zu einer
Mutter, die ihr Kind verloren hat. Gegen Ende des Films kommt es auf den
menschlichen Faktor an, davor ging es viel um Geld und Einfluss.
War es Ihnen wichtig, mit einem optimistischen Akzent zu enden?
Ich würde sagen, das Ende gibt ihnen eine Chance. Ich weiß nicht, wie groß
oder klein sie ist. Es hängt von Barbu ab. Er ist die jüngere Generation.
Cornelia wird versuchen, so zu bleiben, wie sie ist. Es kommt darauf an, ob
Barbu sich lösen kann.
Sie deuten manchmal, auch in diesem Gespräch wieder, Differenzen zu anderen
rumänischen Filmen an. Sind Ihnen „Aurora“ von Cristi Puiu oder „Polizis…
Adjektiv“ von Corneliu Porumboiu zu pessimistisch?
Nicht zu pessimistisch, aber zu radikal.
Radikal in ihrem Gesellschaftsbild oder in ihrer Form?
Radikal in ihrer Form. Ich mag die Filme von Cristi Puiu immer erst mit
einem zeitlichen Abstand, mit Ausnahme von „Der Tod des Herrn Lazarescu“,
der unmittelbar verständlich ist. Puius erster Film „Marfa si banii“
(2001), der häufig als erster „neuer“ rumänischer Film bezeichnet wird, h…
mich damals nicht überzeugt. Das erschien mir zu sehr deklarierte Nouvelle
Vague.
Wie hat sich Ihre Beziehung zum Kino entwickelt?
Mein Kino entdeckte ich in den neunziger Jahren. Damals lebte ich in
Stuttgart. 1981 blieb mein Vater nach einem Kongress dort, 1983 konnte ich
mit meiner Mutter nachkommen. Ich erinnere mich, dass ich damals „Die
Blechtrommel“ im Fernsehen sah, das hat mich geschockt. Danach kamen „Taxi
Driver“ und solche Sachen. In der ganzen Zeit in Stuttgart war ich nie so
richtig integriert, ich hatte keine richtigen Freunde und bin oft allein
ins Kino gegangen. Nicht nur Arthaus, auch Blockbuster. 1994 ging ich
zurück nach Rumänien.
Das war entscheidend für Ihre Filmkarriere?
Ja, allerdings war es alles andere als einfach. Damals wurde ich fast als
Ausländer gesehen. In Deutschland war ich ein Einsiedler, in Bukarest war
ich ein Fremder. Ich habe ja meine Kindheit in Cluj verbracht, das ist in
Transsilvanien. Das Kino meiner Kindheit heißt Victoria. Ich ging da immer
hinten rein, ohne zu bezahlen. Es ist inzwischen renoviert, ein kleines
Arthaus, das funktioniert. Cluj hat eine gute Filmkultur, die Leute sind
besser geschult auch durch das lokale Festival. Bukarest ist etwas anderes,
dort verspürt man viel stärker einen gewissen Balkanismus. Cluj ist mehr im
Westen.
Gibt es deutsche Bezüge in Ihrer Familie?
Die Mutter meiner Mutter war Deutsche, aber sie ist früh verstorben. Ich
habe sie nicht kennengelernt. In der Familie wurde nicht Deutsch
gesprochen.
Die kommunistische Ära und die Revolution kommen in „Mutter und Sohn“ nicht
direkt zur Sprache. Doch ist überall deutlich, dass es sich immer noch um
eine postrevolutionäre Gesellschaft handelt, in der die Partizipation
auszuhandeln ist. Oder hat Rumänien die Revolution schon verspielt?
Nicht verloren, aber die Entwicklung verläuft sehr langsam. Ich wäre aber
nicht so an Rumänien interessiert, wäre es anders.
23 May 2013
## AUTOREN
Bert Rebhandl
## TAGS
Rumänien
Spielfilm
Rumänien
Islamophobie
Spielfilm
Orthodoxe Juden
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