| # taz.de -- Spielfilm aus Israel: Zwischen Pragmatik und Gefühl | |
| > „An ihrer Stelle“ von Rama Burshtein verschreibt sich einer | |
| > Binnenperspektive: Die Welt der Charedim, ultraorthodoxer Juden, verlässt | |
| > der Film nicht. | |
| Bild: Während die Männer singen, schweigen die Frauen bei Tisch: Szene aus �… | |
| Seltsame Tischgesellschaften sind das, die wir in Rama Burshteins Film „An | |
| ihrer Stelle“ zu sehen bekommen. Die Männer sitzen am einen Ende des | |
| Tisches, sie tragen schwere Gewänder und diese Ungetüme von Hüten, die sie | |
| aussehen lassen wie auf den Kopf gestellte Säulenheilige. Die Frauen sitzen | |
| am anderen Ende des Tisches und sagen nichts, denn die Männer singen. Dann | |
| wird doch noch gesprochen. | |
| Die Traditionen sind ehrwürdig, auf denen das Leben der Charedim beruht, | |
| ultraorthodoxer Juden, die in Tel Aviv so wenig wie möglich mit den | |
| säkularen Nachbarn zu tun haben wollen. Nicht, dass sie sich in deren Leben | |
| einmischen würden, davon ist in „An ihrer Stelle“ nichts zu sehen. | |
| Aber sie wollen eben auch nicht, dass sich jemand in ihr Leben einmischt, | |
| ihre Bräuche beanstandet oder gar Freiheit für die jungen Charedim fordert. | |
| Sie selber scheinen eine solche auch gar nicht zu beanspruchen, jedenfalls | |
| nicht in der Geschichte, die Rama Burshtein in einer strikten | |
| Binnenperspektive erzählt. | |
| Wie so oft in solchen Zusammenhängen ist es eine Heiratssache, an der alles | |
| hängt und an der auch alles ersichtlich wird, was diesen Lebensentwurf | |
| ausmacht. | |
| ## Vorfreude auf die Ehe | |
| Das Mädchen Shira, 18 Jahre alt, soll demnächst mit einem jungen Mann | |
| zusammengeführt werden. Zu Beginn des Films sehen wir, wie sie mit ihrer | |
| Mutter in einem Supermarkt verstohlen Ausschau hält nach dem Kandidaten. Er | |
| gefällt ihr gut, soweit man sich einen Eindruck verschaffen kann, wenn ein | |
| Mann gerade an einem Milchregal steht. Man spürt, dass sie sich auf die Ehe | |
| freut, auf eine sinnliche Weise. Und man spürt auch, dass die Mutter die | |
| Freude ihrer Tochter teilt. | |
| Beinahe könnte man von einer programmatischen Szene sprechen, die zeigen | |
| soll, dass eine arrangierte Ehe in diesem Milieu orthodoxen Judentums | |
| keineswegs mit Leibfeindlichkeit und sexueller Repression in eins zu setzen | |
| ist. Und auch in der Folge geht es wesentlich darum, weibliche Räume der | |
| Autonomie zu zeigen, allerdings eben immer in diesem festgefügten Rahmen, | |
| den das strikte Patriarchat und die absolute Dominanz des Rabbis setzt. | |
| Das Drama setzt in dem Moment ein, in dem Shiras ältere Schwester | |
| überraschend stirbt. Sie hinterlässt ihren Mann Mordechai, den sie eben | |
| erst geheiratet hatte, und eine Tochter. Mordechai, ein gut aussehender, | |
| ernsthafter Witwer, gehört nun auch zur Familie von Shira, und für deren | |
| Mutter Rivka steht nun plötzlich zweierlei auf dem Spiel: Sie könnte das | |
| Enkelkind und die Tochter gleichzeitig verlieren, wenn nämlich Shira | |
| heiratet und Mordechai eine arrangierte Ehe eingeht, die ihn nach Belgien | |
| führen würde (die globale Dimension dieses sehr engen Heiratsmarktes deutet | |
| Rama Burshtein damit auch an). | |
| ## Hingabe zum Detail | |
| An vielen Stellen wirkt „An ihrer Stelle“ (hebräischer Titel: „Lemale et | |
| ha’halal“) beinahe wie ein Dokumentarfilm, eben wenn zum Beispiel die | |
| Gesänge bei Tisch oder bei Feierlichkeiten ausführlich gezeigt werden. Auch | |
| die Kleidung und der Instanzenweg innerhalb der Gemeinde, in der alles auf | |
| die Autorität des geistlichen Vorstehers hinausläuft, werden mit Hingabe | |
| zum Detail geschildert. Und doch handelt der Film nicht nur vom Gesetz und | |
| von der Tradition, sondern entscheidend von einer interessanten Spannung | |
| zwischen Regel und Hausverstand, zwischen Pragmatik und Gefühl. | |
| Dabei ist nicht immer alles sofort nachzuvollziehen. Der Vergleich mit den | |
| englischen Romanen des 19. Jahrhunderts, mit Büchern von Jane Austen oder | |
| George Eliot, den manche Kritiker des Films gezogen haben, trifft nur zum | |
| Teil. Denn Shira und Mordechai, die miteinander eine Sache zu klären haben, | |
| an der die ganze Gemeinde und vor allem ihre eigene Familie teilhat, | |
| befinden sich nicht in einem grundsätzlichen Dissens mit ihrer Ordnung. Es | |
| geht in „An ihrer Stelle“ nicht darum, mit „Sinn und Sinnlichkeit“ die | |
| Grenzen der Freiheit weiter hinauszuschieben oder gar den liberalen | |
| Individualismus unserer weltlichen Gegenwart vorzubereiten. | |
| ## Ohne Folklore | |
| Rama Burshtein setzt auch filmisch die Welt der Charedim absolut, und sie | |
| interessiert sich nur dafür, welchen Stellenwert innerhalb dieser fest | |
| gefügten Koordinaten, die sich bei Tisch oder in der Synagoge zeigen, das | |
| Herz, der Verstand, die Klugheit und das Begehren spielen können. Zugleich | |
| hütet die Regisseurin sich vor einer folkloristischen Verklärung. | |
| Sie zeigt einzig und allein Figuren, die sich von Gesetzen bestimmen | |
| lassen, die den meisten Menschen unverständlich erscheinen würden, und die | |
| dabei an einer Balance zwischen Notwendigkeit und Freiheit arbeiten, die | |
| gerade modernen Beobachtern höchst interessant erscheinen müsste. | |
| ## ■ „An ihrer Stelle“. Regie: Rama Burshtein. Mit Hadas Yaron, Yiftach | |
| Klein u. a. Israel 2012, 90 Min. | |
| 11 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Bert Rebhandl | |
| ## TAGS | |
| Orthodoxe Juden | |
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