# taz.de -- Lyrikerin Sarah Kirsch gestorben: Seelenzustände im Schnodderton | |
> Im Alter von 78 Jahren ist die Büchner-Preisträgerin Sarah Kirsch | |
> gestorben. Ihre Naturgedichte waren alles andere als naive | |
> Landschaftslyrik. | |
Bild: Dichterin vor Deich: Sarah Kirsch nahe Cuxhaven, 2006. | |
HAMBURG/HEIDE dpa | Sarah Kirsch, eine der bedeutendsten deutschen | |
Lyrikerinnen der Gegenwart, ist tot. Die Schriftstellerin starb bereits am | |
5. Mai im Alter von 78 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit in | |
Schleswig-Holstein. Das teilte die Deutsche Verlags-Anstalt am Mittwoch in | |
München mit. | |
Kirschs rätselhaft einfachen Naturgedichte waren alles andere als naive | |
Landschaftslyrik. Sie schildern Seelenzustände, waren voller | |
hintergründiger Finesse und politischer Anspielungen. Auf Grammatik und | |
Zeichensetzung legte Kirsch keinen Wert und bot Spott und Trotz im | |
Schnodderton. | |
„Mit ihrem poetisch trockenen Stil wird die Trägerin des | |
Georg-Büchner-Preises von 1996 auch über ihren Tod hinaus eine moderne | |
Klassikerin der Literatur bleiben“, würdigte Kulturstaatsminister Bernd | |
Neumann (CDU) die Lyrikerin. Kirsch habe nicht nur mit ihrer Sprache für | |
Demokratie und Menschenrechte gekämpft. Als Beispiel nannte er etwa ihren | |
„mutigen Protest“ gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann | |
aus der DDR. | |
„Mit dem Tod Sarah Kirschs verlieren wir, verliert die deutschsprachige | |
Literatur eine ihrer wichtigsten, eigenwilligsten und poetisch | |
kraftvollsten Stimmen“, sagte DVA-Verlagsleiter Thomas Rathnow. Die | |
Beisetzung finde im engsten Familienkreis statt. | |
## 1977 von Ost nach West | |
Kirsch wurde 1935 in Limlingerode/Harz als Tochter eines | |
Fernmeldemechanikers geboren, studierte Biologie und Literatur. Als sie | |
sich 1976 in der DDR den Protesten gegen die Ausbürgerung des Liedermachers | |
Wolf Biermann anschloss, wuchs der staatliche Druck und Kirsch siedelte | |
1977 von Ost- nach West-Berlin über. | |
Anfang der 80er Jahre zog sie in ein altes Schulhaus hinterm Deich in | |
Tielenhemme in Dithmarschen (Schleswig-Holstein). Dort lebte sie bis zu | |
ihrem Tode sehr zurückgezogen als freie Schriftstellerin und Malerin. | |
Kirsch habe die Schönheit und den Reiz ihrer Wahlheimat in die Welt | |
hinausgetragen, sagte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig | |
(SPD). | |
Interviews gab Kirsch nur selten: „Die Leute sollen meine Gedichte gern | |
haben und mich möglichst in Ruhe lassen“, sagte sie 1996 den Stuttgarter | |
Nachrichten. Die Themen Liebe, Trennung und Einsamkeit bestimmten ihr Werk. | |
„Meine Grundhaltung ist wohl doch die Melancholie“, erklärte Kirsch einmal | |
über sich selbst. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki pries einst | |
ihre „Lyrik der großen Gefühle und der mächtigen Leidenschaften“. | |
Für ihr dichterisches Werk wurde Kirsch mit zahlreichen Preisen | |
ausgezeichnet, neben dem Georg-Büchner-Preis, erhielt sie unter anderem den | |
Jean-Paul-Preis, den Peter-Huchel-Preis sowie den | |
Johann-Heinrich-Voß-Preis. | |
„Einen besonderen, einen einzigartigen Platz“ habe sich Kirsch in der | |
deutschen Literatur verdient, stellte der Literaturwissenschaftler Joachim | |
Kaiser schon vor vielen Jahren fest. Zu Kirschs Veröffentlichungen zählten | |
der erfolgreiche Lyrik-Band „Katzenleben“ (1984), die von ihr als „Chroni… | |
bezeichnete Prosa „Allerlei-Rauh“ (1988) und der selbst bebilderte Band | |
„Spreu“ (1991). Noch im vergangenen Jahr erschien „Märzveilchen“. | |
## 1960 von Ingrid zu Sarah | |
Geboren wurde Kirsch am 16. April 1935 als Ingrid Hella Irmelinde | |
Bernstein. 1960 nannte sie sich aus Protest gegen die Massenvernichtung der | |
Juden in der Nazi-Zeit Sarah. Im gleichen Jahr heiratete sie den Lyriker | |
Rainer Kirsch und publizierte 1965 mit ihm gemeinsam den ersten Gedichtband | |
„Gespräche mit dem Saurier“. Die Ehe hielt nur bis 1968. Vater ihres 1969 | |
zur Welt gekommenen Sohnes Moritz war der Schriftsteller Karl Mickel. | |
Die Hamburger Autorenvereinigung würdigte Kirsch als „hervorragende | |
Schriftstellerin“. Die deutsche Literaturszene müsse in Zukunft auf eine | |
Frau verzichten, die Zeit ihres Lebens im besten Sinne streitbar gewesen | |
sei, vor allem gegen Diktaturen, sagte der Sprecher Peter Schmidt. | |
Der Lyriker Uwe Kolbe erklärte im Deutschlandradio Kultur, Kirsch sei „DIE | |
große Stimme des Gedichts“ gewesen. Diese Stimme sei aber nicht verstummt, | |
sondern werde jetzt einfach auf eine andere Art gelesen. | |
22 May 2013 | |
## TAGS | |
Nachruf | |
gestorben | |
Lyrik | |
DDR | |
Lyrik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachlass von Sarah Kirsch: Hinter ihrer Sprache versteckt | |
In ihren Empörungen genau, in ihren Verweigerungen knallhart: | |
„Juninovember“, die postumen Tagebücher einer großen Autorin. | |
Christa Wolf war cool: Beinharte Schmerzensfrau | |
Dunkel kam die Büchner-Preisträgerin in den 1980ern an der Uni rüber. Der | |
malträtierte Körper der Frau war ihr Thema, mit dem sie auch im Westen | |
Avantgarde-Autorin wurde. | |
Zum Tode von Christa Wolf: Auf der Parkbank | |
Bescheiden, uneitel, redlich - und verletzlich: Wer Christa Wolf privat | |
erleben durfte, wurde von der klugen Frau reich beschenkt. | |
Männlich und alt sein hilft: Wie man den Büchnerpreis gewinnt | |
Der wichtigste deutsche Literaturpreis wird seit 60 Jahren verliehen. An | |
welche Autoren eigentlich? Klar ist: Der Büchnerpreisträger muss | |
schullektüretauglich schreiben. | |
Die Lyrik des Tomas Tranströmer: "Wie Silber, bei einem Pfandleiher" | |
Nach 14 Jahren geht der Nobelpreis erstmals wieder an einen Lyriker. Tomas | |
Tranströmer ist eine kluge Wahl, die auch die Bedeutung der literatischen | |
Gattung betont. | |
Kommentar Literaturnobelpreis: Wo bleibt die Öffnung für die Lyrik? | |
Lyrik ist beliebt - bekommt in der Öffentlichkeit aber kaum die nötige | |
Aufmerksamkeit. Das wird sich auch mit dem Preis für Tomas Tranströmer | |
nicht ändern. |