| # taz.de -- Rock-Avantgarde: Der Arsch des Universums | |
| > Gleich zwei Mal spielt Thurston Moore, eines der Gesichter der New Yorker | |
| > Rock-Avantgarde, in Hamburg – in einer Zeit, da er sich auch schon mal | |
| > als Ehebrecher beschimpfen lassen muss. | |
| Bild: Freier Rock und glossolalische Ekstase: Yoko Ono und Thurston Moore trete… | |
| Ein Thurston Moore muss, wie ein Lothar Matthäus, keine Interviews geben. | |
| Es wird auch so über ihn geschrieben – mehr als ihm in den letzten Monaten | |
| lieb war. Denn zu tun hat die aktuelle Aufmerksamkeit nichts mit der Musik, | |
| seiner neuen Band Chelsea Light Moving oder irgendeiner anderen | |
| kreativen/künstlerischen Aktivität. Thema sind noch nicht mal Sonic Youth: | |
| Seit der Trennung des öffentlich gern als „First Couple of Indie Rock“ und | |
| „Punk Rock Royalty“ gegeißelten Ehepaars Kim Gordon/Thurston Moore ist die | |
| Zukunft der über lange Jahre gemeinsamen Band ungewiss. | |
| Doch diese Trennung beschäftigt die Medien heute mehr denn je: Für den | |
| aktuellen Shitstorm lieferte Kim Gordon höchstpersönlich die Munition. In | |
| einem Interview mit der amerikanischen [1][Elle] verriet sie im Mai, dass | |
| hinter allem eine andere Frau stecke. „Thurston machte einfach damit | |
| weiter, dieses ganze Doppelleben mit ihr zu führen“, erinnert sich Gordon. | |
| „Er erschien wirklich wie eine verlorene Seele.“ | |
| Der Rolling Stone fordert im ersten [2][Artikel] über Chelsea Light Moving | |
| einen Kommentar von Moore – und bekommt prompt die zu erwartende Abfuhr: | |
| „Darüber spreche ich nicht. Es gibt keinen einzelnen Aspekt, über den ich | |
| jemals sprechen werde.“ | |
| Zur Hatz bläst dafür das Online-Magazin Jezebel.com: [3][Hier] werden die | |
| einzelnen Hinweise aus Gordons Elle-Interview destilliert, analysiert und | |
| interpretiert – blitzschnell steht die Schuldige fest. Nach alter | |
| Boulevard-Manier verpackt die Headline den Jagdaufruf in der juristisch | |
| wasserdichten Frageform: „Is This the Woman Who Broke Up Kim Gordon and | |
| Thurston Moore?“ Nicht blenden ließen sich die aufrechteren Feministinnen | |
| unter den Jezebel-Leserinnen, wortmächtig beschwerten sie sich über die | |
| Zurschaustellung jener Frau als Ehe zerstörende Schlampe; in Amerika | |
| spricht man in diesem wie in anderen Zusammenhängen gern vom | |
| „Slut-shaming“. | |
| Sollten wir überhaupt noch erwähnen, dass Moores Neue beim ersten Video von | |
| Chelsea Light Moving Regie geführt hat? Es wirkt zumindest etwas blöd, wie | |
| er, auf den Clip angesprochen, gegenüber dem Rolling Stone herumeiert. Der | |
| Pro-Occupy-Song „Lip“ besticht durch den Charme von lobotomisiertem Punk; | |
| der Refrain besteht aus einem mehrfachen „Fuck!“, die Catchphrase lautet | |
| „Get fucking mad/Too fucking bad“. Zur Bebilderung dient ein | |
| Zusammenschnitt von entsprechenden Aufnahmen: Aufstände und Polizeieinsätze | |
| und dazwischen immer wieder, farbverfremdet und bewusst dilettantisch | |
| gefilmt, die Band. | |
| Zu der ist leider schon fast alles gesagt, zitiert man einen | |
| Festivalbesucher: „Joa, wie Sonic Youth, nur etwas langweiliger.“ Im | |
| Hintergrund ruft ein anderer: „Noch langweiliger?!“ Im Westwerk nun kann | |
| man der Band mit dem Namen des Umzugsunternehmens, das in den 1970ern die | |
| beiden Minimal-Music-Protagonisten Philip Glass und Steve Reich aus akuter | |
| Geldnot gründeten, mehr Liebe schenken. Thurston Moore kann sie brauchen! | |
| Einen guten Monat später, am 10. August, zeigt er uns in Begleitung der | |
| mittlerweile achtzigjährigen Fluxus-Hexe Yoko Ono, wo der Frosch die Locken | |
| hat. Letztes Jahr haben beide – zusammen mit Kim Gordon – eine EP gemacht, | |
| keine Ahnung, was sie diesmal treiben. Das Programm des [4][Internationalen | |
| Sommerfestivals] auf Kampnagel, in dessen Rahmen die beiden, äh, | |
| „performen“, [5][verspricht] eine „wilde Kollision aus Songs, Poesie, | |
| Free-Rock und glossolalischer Ekstase“. Als Glossolalie beschreibt der | |
| Duden übrigens die Hervorbringung von fremdartigen Sprachlauten und | |
| Wortneubildungen, besonders in religiöser Ekstase. | |
| Ebenfalls auf Kampnagel gibt sich dann [6][am 22. August] eine alte | |
| Bekannte Moores die Ehre: Lydia Lunch. In ihrem Schlepptau hat sie unter | |
| anderem Bob Bert, der wiederum früher bei Sonic Youth getrommelt hat | |
| (außerdem bei Pussy Galore, Action Swingers, Bewitched, Honeymoon Killers | |
| sowie gefühlt/gemittelt 100 anderen Bands). | |
| Trotz der epochalen Zusammenarbeit mit Sonic Youth, dem Stück „Death Valley | |
| 69“ (1984), kann Lunch nicht wirklich als eine Weggefährtin Moores gelten. | |
| Sie weilte bereits mitten im Herzen der Bestie New York, als der ein Jahr | |
| ältere Junge aus Connecticut noch im Bummelzug anreiste, um sich bei seinem | |
| ersten Kurzbesuch die legendären Suicide anzusehen. Lunch war schon | |
| Ewigkeiten zuvor, als 13-Jährige, in NYC gelandet, nach eigenen Angaben | |
| lediglich mit einem kleinen roten Koffer und einem Wintermantel im Gepäck – | |
| und natürlich dem, was sie gern ihre „big fucking attitude“ nennt. | |
| Ihren Namen verdankt Lydia Lunch angeblich dem Umstand, dass sie als junge | |
| Göre wiederholt den Dead Boys das Essen geklaut haben soll. In der | |
| Dokumentation [7][„Punking Out“] über die Szene um das legendäre CBGB’s | |
| wird sie im fortgeschrittenen Alter von 17 interviewt. Die vollständige | |
| Abschrift: | |
| „I’m here to see the Dead Boys“ | |
| Why? | |
| „Because they’re great fucks!“ | |
| How do you know? | |
| „Because I fucked them!“ | |
| Alles, was der notorische Hipster Moore schon immer gern gewesen wäre, war | |
| und ist Lydia Lunch. Die übrigens seit Jahren in Barcelona lebt und für New | |
| York nur noch böse Worte findet – „the fuckin’ asshole of the universe!�… | |
| Rahmen seiner Arbeit an dem Fotobuch „No Wave: Post-Punk. Underground. New | |
| York 1976–1980“ interviewte Moore vor einiger Zeit Lydia und bot sich an, | |
| falls sie noch mal ihre legendäre erste Band Teenage Jesus & The Jerks | |
| reanimieren wolle. | |
| Sie wollte, konnte – und hat es einfach getan, sehr erfolgreich mit Moore | |
| am Bass und Weasel Walter an und in allem anderen. Letzteren wiederum | |
| bringt sie nun neben Bob Bert und Algis Kizys (Swans) mit nach Hamburg. | |
| Retrovirus nennen sie sich, und ja – DAS könnte was werden! | |
| Chelsea Light Moving: Fr, 5. 7., Hamburg, Westwerk | |
| Yoko Ono & Thurston Moore – An Evening of Musical Improvisation and Film: | |
| Sa, 10. 8., Hamburg, Kampnagel | |
| Retrovirus: Do, 22. 8., Hamburg, Kampnagel | |
| 2 Jul 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.elle.com/pop-culture/celebrities/kim-gordon-sonic-youth-profile | |
| [2] http://www.rollingstone.com/music/news/q-a-thurston-moore-on-chelsea-light-… | |
| [3] http://jezebel.com/is-this-the-woman-who-broke-up-kim-gordon-and-thurston-4… | |
| [4] http://kampnagel.de/internationales-sommerfestival/ | |
| [5] http://kampnagel.de/de/programm/yoko-ono-thurston-moore/?datum=&id_datu… | |
| [6] http://kampnagel.de/de/programm/lydia-lunch/?datum=&id_datum=1504 | |
| [7] http://www.punkingoutfilm.com/ | |
| ## AUTOREN | |
| Lars Brinkmann | |
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