# taz.de -- Novelle „Auflaufend Wasser“: Ethnologie des Insellebens | |
> Ein Seemann stirbt auf einer Sandbank. Das Autorenduo Astrid Dehe und | |
> Achim Engstler beschreibt eindrücklich seine letzten Stunden. | |
Bild: Einsame letzte Stunden: der Protagonist des Romans hat keine Chance. | |
Für alle, die es nicht wissen: Baltrum ist die von Westen her gesehen | |
vierte der sieben ostfriesischen Inseln und zugleich die kleinste. Ein | |
naheliegender Scherz besagt, dass man „bald rum“ ist, wenn man die Insel | |
begeht. Ein makabrer Scherz könnte lauten, dass man so eine kleine Insel | |
schon einmal verfehlen und stattdessen auf einer Sandbank landen kann. | |
Genau davon, aber natürlich keineswegs scherzhaft, erzählt die knappe | |
Novelle von Astrid Dehe und Achim Engstler. Das Autorengespann war im | |
vergangenen Jahr mit dem Buch „Kafkas komische Seiten“ hervorgetreten, das | |
nicht die hundertste Abhandlung im Gefolge der Neuen Frankfurter Schule | |
über Kafkas Komik ist, sondern eine kenntnisreiche und unterhaltsame | |
Einführung in Kafkas Werk. Nun liegt diese Novelle vor. | |
Die Fakten sind historisch, und sie sind sehr schnell erzählt. Am 23. | |
Dezember 1866 lässt sich der 21-jährige künftige Seemann Tjark Evers, der | |
auf dem Festland eine Navigationsschule besucht, von einem Boot auf seiner | |
Heimatinsel absetzen, um seine Familie zu Weihnachten zu überraschen. Es | |
ist dichter Nebel, als er an Land geht. „Er steht hier, am Ostrand der | |
Insel, die da ist, auch wenn er sie nicht sieht.“ | |
## Niemand wird nach ihm suchen | |
Dass er sie nicht sieht, liegt nicht allein am Nebel, sondern daran, dass | |
er irrtümlich statt auf Baltrum auf einer vorgelagerten Sandbank gelandet | |
ist. Das wird dem zukünftigen Seefahrer auch sehr schnell klar, und er weiß | |
auch, was das bedeutet: Er hat keine Chance, wenn erst die Flut kommt, das | |
„auflaufend Wasser“, das der Novelle den Titel gibt. Niemand wird nach ihm | |
suchen, weil man ihn ja auf dem Festland wähnt: Er hat seinen Eltern sein | |
Kommen nicht angekündigt. | |
Tjark Evers fügt sich sehr schnell in seine Lage, auch wenn er auf geradezu | |
klassische Weise dagegen aufzubegehren versucht: indem er schreibt. Mit | |
großer Bleistiftschrift malt er in das Taschenbuch, das er bei sich führt, | |
„dicke Pappe, kaschiert mit blauem Papier“. Auf dessen Seiten sind | |
„sphärische Dreiecke berechnet […], Winkel bestimmt, Sinus- und | |
Cosinusfunktionen angegeben. Er ist fleißig gewesen, aber eine Reihe Seiten | |
sind noch frei, auf denen er Übungsaufgaben hatte rechnen wollen.“ | |
Auf diesen Seiten schreibt Evers gewissermaßen seinen Abschiedsbrief, „in | |
seiner schönen Schrift, füllt mit großen Bleistiftbögen drei Seiten, die | |
wie gemeißelt wirken“. Dieses Buch ist 1867 in einer Zigarrenkiste | |
tatsächlich vor Wangerooge angeschwemmt worden. Man kann es heute im | |
Inselmuseum Baltrum einsehen, das sich die kleinste ostfriesische Insel | |
leistet und mit dessen Begehung die Novelle sehr stimmungsvoll beginnt. | |
## Beckett hätte vielleicht ein grandioses Bühnenstück daraus gemacht | |
Diese Grundsituation gibt eine klassische Short Story her, sollte man | |
meinen, mehr aber auch nicht. Oder Beckett hätte vielleicht ein grandioses | |
Bühnenstück daraus gemacht, gleichsam einen maritimen Nachfolger von | |
„Endspiel“, diesmal als Monolog. Aber eine Novelle von 113 Seiten? Das | |
klingt doch sehr nach: auf einer Glatze Locken drehen. | |
Es ist jedoch erstaunlich, was Dehe und Engstler aus dieser | |
Ausgangssituation machen. Sie entscheiden sich für das einzig Richtige, | |
verlassen im Großen und Ganzen die äußere Situation und konzentrieren sich | |
auf Tjarks Innenleben, seine Gedanken, Phantasien, die Erinnerungen, die | |
sich in diesem kurzen Leben schon angesammelt haben. Da kommt ganz nebenher | |
und unaufdringlich auch eine kleine Ethnologie des Insellebens und der | |
Inselmentalität zustande. Existenzielle, auch explizit religiöse Fragen | |
werden verhandelt. | |
Tjarks erste Niederschrift in das Buch ist jedoch völlig unmetaphysisch und | |
unsentimental und liest sich im Zeilenbruch so: „Liebe Eltern / Gebrüder u | |
Schwestern / ich stehe hier auf / einer Plat / und muß / ertrinken ich | |
bekom / me Euch nicht / wieder zu sehen / und ihr mich nicht.“ Erst im | |
zweiten Text wird Gott angerufen, damit er das in einer „Sigarren Kiste“ | |
verstaute Buch irgendwann an die Adressaten bringen möge. Einmal ziehen ein | |
paar Schiffe oder Boote in Sichtweite vorbei. | |
## Er fügt sich in seine Lage | |
Tjark weiß, dass es keinen Sinn hat, zu brüllen und zu winken, tut es | |
dennoch, gibt dann auf, fügt sich wieder in seine Lage. Er denkt an seine | |
Familie, auch an seinen kleinen Neffen, den seine Schwester vor vier Wochen | |
geboren hat. Er denkt aber auch an andere Seefahrer und Inselbewohner, die | |
aufgrund ähnlicher Irrtümer oder falscher Berechnungen wie er ums Leben | |
gekommen sind. | |
Er denkt über das Leben nach, das ihm von Kindheit an gleichsam bestimmt | |
war und auf das er sich vorbereitete: „Mann sein, hieß für einen Evers, | |
Schiffer sein. Eine Tjalk kaufen, später vielleicht eine Galiot, und Fracht | |
fahren, vom Frühjahr bis spät in den Herbst. Eine Frau haben …“ Dieses | |
Leben wird nun ungelebt bleiben. | |
Der Text changiert zwischen nüchterner Resignation, sogar leiser Komik und | |
einem gewissen existenziellen Pathos, das an ein oder zwei Stellen | |
vielleicht etwas zu sehr vibriert. Vor allem aber hält die Erzählung die | |
Grundspannung, fällt nicht gegen Ende ab. Und Tjark trifft noch einmal eine | |
Entscheidung, möchte noch einmal Handlungshoheit für sich gewinnen: „Ich | |
habe das Wasser / jetzt ans Knie ich will / mich gleich ertränken / denn | |
Hülfe ist nicht / mehr da. Gott sei / mir Sünder Gnädig. / T Evers / bitte | |
zu / besorgen an / H E Evers / Insel / Baltrum.“ | |
## Die Reaktion der Familie | |
Auf Seite 93 geht Tjark von uns. Die folgenden Seiten gelten dem Fund der | |
Zigarrenkiste mit dem Buch, dem Eintrag ins „Todes- und Begräbnißbuch“, d… | |
Kämpfen, die der Pastor angesichts des Satzes „Ich will mich gleich | |
ertränken“ mit sich ausficht, der Reaktion der Familie und ihrem Gedenken | |
an den verlorenen Sohn. Die Novelle hat die Plat, die Sandbank verlassen | |
und kehrt zögernd ins Leben zurück. | |
Das Autorengespann Dehe/Engstler arbeitet derzeit an seinem ersten Roman. | |
Dessen Stoff mag es nicht verraten, aber nach „Auflaufend Wasser“ darf man | |
neugierig sein. | |
Astrid Dehe / Achim Engstler: „Auflaufend Wasser“. Novelle. Steidl Verlag, | |
Göttingen 2013, 113 Seiten, 16 Euro | |
20 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Jochen Schimmang | |
## TAGS | |
Literatur | |
Insel | |
Verleger | |
Helmut Lethen | |
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