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# taz.de -- DIE WAHRHEIT: Mein Leben als Inselbahn-Hobo
> Das Leben eines Inselbahn-Hobo ist frei und unbeschwert.
Bild: Einsame letzte Stunden: der Protagonist des Romans hat keine Chance.
Das Leben eines Inselbahn-Hobo ist frei und unbeschwert. Morgens, wenn alle
gen Strand fahren, wenn sie Kinder, Hunde, Strandmuscheln, Schippen,
Krampfadern und Sonnenmilchflaschen zusammenraffen und auf das Bähnchen
verfrachten, liege ich bereits im Schatten des Strandhafers auf der Lauer,
der die Dünen rund um die Gleise vom Wandern abhält. Ich trage all mein Hab
und Gut in einer ganz kleinen Rossmann-Tüte bei mir, denn ich bin nahezu
mittellos, mein einziger Besitz ist ein Jack-London-Buch, das bald
auseinanderfällt.
Ich warte, bis ich das Hupen der Lok höre, dann gebe ich den Laut der
Lachmöwe von mir, um die Gäste etwas abzulenken, und den anderen, ebenfalls
auf eine Inselbahn lauernden Hobos mitzuteilen, dass ich es bin. In den
Jahrzehnten meines Hobotums habe ich viele Vogelstimmen gelernt, wir Hobos
benutzen sie manchmal, um uns unbemerkt zu verständigen; so beherrsche ich
das je nach Nachrichteninhalt bis zu zwanzig Mal aneinandergereihte „Hu“
oder „Bu“ der Sumpfohreule genauso perfekt wie das traurige „Trüüüüü…
des Goldregenpfeifers, das ich einsetze, wenn zum Beispiel eine Bahn
Verspätung hat.
Wenn die Bahn noch 300 Meter entfernt ist – bei den besonders kurzen
Inselbahnstrecken auf den Halligen ist das die Hälfte des Gesamtnetzes –,
krieche ich langsam durch das dichte Dünengras. Ich suche mir einen Hügel
ganz nah an den Schienen, und dann, wenn die Bahn fast vorbeigezuckelt ist,
krächze ich mein „Rä grä grä – krääh, krääh“, den Balzruf der Lac…
springe aufs Dach. Es ist nicht besonders schwer, hinaufzukommen, denn die
Bahn ist ein Meter achtzig hoch, und wenn ich von der kleinen Düne aus
losspringe, ist es nur noch ein Meter, außerdem fährt sie zehn
Stundenkilometer, sodass auch alte Hobos mitkommen können. Manchmal treffen
wir freche Touristenkinder auf unseren Dächern, die wir sofort
hinunterwerfen.
Wir liegen gemütlich auf dem Dach, spielen Mundharmonika, lassen die
bauchige Flasche „Küstennebel“ kreisen, zitieren unsere
Lieblingseselsbrücke für die Namen der ostfriesischen Inseln („Welcher
Seemann liegt bei Nanni im Bett?“ – „Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog,
Baltrum, Norderney, Juist, Borkum“) und preisen das Hobo-Leben.
Ab und zu, wenn ich sehr müde bin, verstecke ich mich bereits im
Inselbahnhof unter einem Waggon, ich lege mich auf das grün oder rot
gelackte Metallgestänge, knülle meine alte Rossmann-Tüte im Nacken zusammen
und halte während der Fahrt ein Nickerchen. Nur wenn der Schaffner das
Eisen tanzen lässt, würde es für mich gefährlich werden. Dann müsste ich
mich sofort fallen und den Abhang hinunterrollen lassen, bevor er mich
findet und ins Kittchen wirft. Allerdings habe ich noch keinen Schaffner
gesehen.
Als echte Hobos haben wir auch eine eigene Zeichensprache: Ein
geschwungenes „MM“ bedeutet „Moin Moin“; ein paar Regentropfen bedeuten…
regnet“; ein Mond bedeutet „Heute ist Montag“. Mein Ziel ist es, zu
Lebzeiten alle Nordseeinseln und alle Halligen zu bereisen. Die Ostsee ist
mir zu gefährlich.
31 Jul 2012
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Literatur
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