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# taz.de -- Lesen als Lebenshilfe: Souverän und amüsant
> Helmut Lethens „Suche nach dem Handorakel“ hat nur ein Thema: Das Buch zu
> finden, das die entscheidenden Lebensregeln an die Hand gibt.
Bild: Tausende Seiten. Tausende Lebensregeln.
„ ’Mich wundert‘, schrieb ich 1979 mit dem beruhigenden Blick auf die
Polderlandschaft, ’dass der Mechanismus von Psychotisierung und
Kriminalisierung in jenen Jahren – auch in Berlin – nur so wenige ergriffen
hat. Sollte die Reihe der ML-Parteien eigens zu dem Zweck gegründet worden
sein, diesen Gang der Dinge zu verhindern? Merkwürdiger Gedanke, diese
Parteien könnten als ’Sinnmaschinen‘ manchen aufgefangen haben: mit ihrem
zauberhaften ’Demokratischen Zentralismus‘, der die verstörenden Evidenzen
der Sinne auf dem Protokollweg filtert […]. Die Erfahrungsberichte, die
bisher aus diesen Organisationen veröffentlicht wurden, sprechen von einem
Prozess des Wirklichkeitsverlustes, der bis ans Vergessen der Jahreszeiten
reicht.“
Soll heißen: Jene merkwürdigen Gebilde, die in den frühen 70er Jahren
gegründet wurden, jene „kommunistischen Parteien“ im Kostüm der Komintern,
hatten per List der Vernunft vor allem die Funktion, ihre Mitglieder nicht
durchdrehen oder in der Gegend herumballern zu lassen.
Diese These hat Helmut Lethen, so erzählt er eingangs, 2007 auf Einladung
eines Kreises von Historikern in einer Bildungsstätte der Adenauer-Stiftung
vorgetragen. Bestätigt wurde ihre Richtigkeit von einem ehemaligen
Referatsleiter des Verfassungsschutzes, dessen Argumentation ihn als
Luhmann-Kenner auswies. Was Lethen als Provokation gedacht hatte, war hier
schon längst akzeptierte Erkenntnis. Mit dieser zauberhaften Geschichte
beginnt das Buch.
Nein, persönlich begegnet sind wir uns mit Sicherheit nie. Der junge Mann
mit der prachtvollen Afro-Frisur, der im Sommer 1969 mich und andere, die
vor dem Germanistischen Seminar in der Boltzmannstraße 3 auf dem Rasen
lagerten, fragte: „Hat hier noch jemand Interesse, eine Rote Zelle zu
gründen?“, war nicht Helmut Lethen. Ich hatte auch kein Interesse, eine
Rote Zelle zu gründen, weil ich erst ein paar Wochen in Berlin (West) war
und rein gar nichts verstand. Erst über ein halbes Jahr später, in einem
sehr kalten Berliner Winter, schloss ich mich der ersten entschieden
stalinistischen Truppe an, die aus dem Verfall der antiautoritären Bewegung
hervorgegangen war. Diese Organisation löste sich nach zwei Jahren selbst
wieder auf, im damaligen Wettkampf der „Parteien“ eher eine
Ausnahmeerscheinung.
## Ein Who’s who
Lethen dagegen gehörte zu den Gründungsvätern jener „KPD (AO)“, die sich
als KPD bis 1980 am Leben erhalten sollte und aus der man später ein Who’s
who der Kulturintelligenzija der Achtziger hätte kompilieren können: Karl
Schlögel, Christian Semler, Peter Neitzke, Alexander von Plato, Frieder
Reininghaus und viele andere: auch Helmut Lethen. 1980, als sich seine
Partei selbst auflöste, lehrte er jedoch schon seit drei Jahren an der
Universität Utrecht, „glücklich den Grabenkämpfen entronnen“.
Um welche obskuren Fragen es bei diesen Grabenkämpfen ging, ließ sich unter
anderem in dem 1979 erschienenen Bildungsroman „Der schöne Vogel Phönix“
nachlesen, dem der Suhrkamp Verlag leider den dämlichen Untertitel
„Erinnerungen eines Dreißigjährigen“ gab und der mein literarisches Debüt
bildete. Die Sammelrezension, aus der Lethen eingangs zitiert, galt in
ihrem Schlussteil ebendiesem Buch, und sie blieb bis heute das Klügste, was
dazu geschrieben wurde. Der Grund dafür war nicht nur Intellekt, sondern
Empathie. Nur so lässt sich erklären, wie jemand auf die schöne
Formulierung verfallen kann, der Reiz des Buches liege „in der
Unverschämtheit, mit der sich ein Dandy in die Lederjacke der Komintern
kleidet“. Diese Kritik verstand, was andere nicht verstanden: dass hier
nichts „aufgearbeitet“ werden sollte.
So auch nicht in dem nun vorliegenden Buch. Welche Gattungsbezeichnung
sollte man ihm geben? Erinnerungen? Prolegomena zu einer Autobiografie?
Unsinn. Es handelt sich um genau das, was der Titel besagt: um die Suche
nach dem Handorakel, um den Versuch, das Buch zu finden, das die
entscheidenden Lebensregeln an die Hand gibt. Helmut Lethen suchte danach
schon lange, bevor er 1990 auf dem Küchentisch einer Wohnung „in der
Bleibtreustraße Berlin ein Reclamheft“ fand, das Handorakel des spanischen
Jesuiten Gracian in Schopenhauers Übersetzung.
## Die Achtundsechziger haben noch gelesen
In der Süddeutschen Zeitung hat sich Jens Hacke etwas über diesen irgendwie
naiven Glauben mokiert, es gelte nur das richtige Buch zu finden, um die
Widersprüche des Kapitalismus zu lösen. „Nicht nur 1963“, schreibt Lethen,
„auch in den folgenden Jahrzehnten neigte ich dazu, alle schwierigen Texte
auf praktische Verhaltensregeln zu reduzieren, um unseren
Bewegungsspielraum zu erweitern.“ Mag das naiv sein, ist es doch auch
verständlich. Hat sich da etwas geändert? Vielleicht. Mir hat einmal ein
befeindeter Redakteur gesagt, als wir noch nicht verfeindet waren: „Die
Achtundsechziger mag ich überhaupt nicht, aber eins muss man ihnen lassen:
Die haben noch gelesen.“
Übrigens nicht nur. Seine Umwelt sei eine „Lernumwelt aus
Freundschaftsnetzen, Frauen und reizvollen Büchern und Filmen“ gewesen,
schreibt Lethen, wenn er aus seiner Jugend in den 50er und frühen 60er
Jahren erzählt. Logisch, so war das doch bei uns allen: Freunde, Mädchen,
Bücher, Filme. Der Vater kam erst 1947 aus der englischen Gefangenschaft
nach München-Gladbach zurück, wie Mönchengladbach tatsächlich offiziell bis
zum Jahr 1960 hieß. Zu Hause war er, wie viele Väter jener Jahre, ein
schwacher Mann, dessen „Heimkehr in die Familie eher die Farbe eines
Gnadenakts der Mutter“ hatte. Er kehrte in sein Hutgeschäft zurück.
„Findet man Bilder der Eltern in den Medien? Zehn Jahre nach seinem Tod sah
ich meinen Vater in einem Kino in Utrecht in Claude Chabrols ’Die Phantome
des Hutmachers‘ wieder […].“ Die Mutter dagegen erkennt er in der Person
Hanna Schygullas in Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ (1979): stark und
schön. Nur die Liaison mit dem GI fehlt. Mönchengladbach war schließlich
britische Zone.
## „Minima Moralia“? Ungeeignet!
1963, im Studentenheim in Amsterdam, liest Lethen neben anderen möglichen
Handorakeln auch Mitscherlichs „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“.
Wilde Anstreichungen und Exzerpte, wie er später feststellt. „Während ich
den Vater in mildem Lichte sah, war Mitscherlichs Urteil über die Welt der
deutschen Väter gnadenlos.“ Entscheidend ist der erste Teil des Satzes.
Immerhin hatte der Vater schon 1928 als Arbeitsloser „Reden für die NSDAP
auf Fabrikhöfen“ gehalten. Man muss das kurzschließen mit der Erzählung,
dass erst die Wehrmachtsausstellung 1995 den Sohn zu einer engeren
Beschäftigung mit der NS-Zeit geführt hat. Hacke versteht das nicht, dabei
ist es einfach: Man möchte das ohnehin schon ramponierte Bild der Eltern
nicht vollends beschädigen.
Die „Minima Moralia“ eignen sich dann nicht so sehr als Handorakel. Jede
gerade aufscheinende mögliche Regel wird gleich wieder mit einem „aber“,
„freilich“ oder „allerdings“ in Frage gestellt: Kippfigur. „Bei dieser
Gelegenheit merkte ich, dass mir jedes Talent zum dialektischen Denken
abging. Wenn man weiß, dass es einem Katholiken aufs Wort nicht ankommt,
wird man sich überhaupt wundern, dass ich Literaturwissenschaftler wurde.“
Eigentlich nicht. Es sind doch die Schriftsteller (jedenfalls manche),
denen es aufs Wort ankommt, nicht die Literaturwissenschaftler.
Zu den Handorakel-Kandidaten gehörte auch David Riesmans „Die einsame
Masse“. Der amerikanische Soziologe eckte mit der „unaufgeregte(n)
Einschätzung der amerikanischen Konsumenten“ bei deutschen Kollegen an,
Schelsky zum Beispiel. Massenkultur war verpönt, und daran hat sich so viel
wohl nicht geändert, wenn man an die „Unterschichtdebatte“ denkt. Lethen
schließt kühn Riesmans Buch mit Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit“ zusammen, und dieses wiederum mit der
Constanze, in den 50ern die populärste Illustrierte überhaupt, und mit der
Hitparade von Chris Howland.
## Die Arbeiterklasse
Dann also dieser Gracian auf dem Berliner Küchentisch, und darauf folgten
drei Jahre später jene „Verhaltenslehren der Kälte“, die Helmut Lethens
erfolgreichstes Buch wurden. In dem hier vorliegenden ist der Duktus
naturgemäß ein ganz anderer. Hier muss nichts nachgewiesen und
wissenschaftlich wasserdicht gemacht, hier darf erzählt werden. Das tut
Lethen sehr souverän und amüsant. Am amüsantesten im Bericht über die Angst
vor der Arbeiterklasse im Treppenhaus im Wedding. Ich selbst hatte damals
auch Angst, wenn ich mit der „Kommunistischen Arbeiterzeitung“ morgens um
halb sechs vor Borsig stand.
„Lebensversuche zwischen den Kriegen“, lautet der Untertitel der
Verhaltenslehren. Von Lebensversuchen erzählt auch dieses Buch, allerdings
nach einer ungleich kleineren Katastrophe. Der Untergang der
Kostüm-Komintern der frühen Siebziger hat für die meisten Beteiligten keine
wirklich verheerenden Folgen gehabt. Allerhöchstens hatten manche
Schwierigkeiten, in Deutschland eine Stelle zu finden, auch Lethen.
Das hat ihm bis 1996, als er eine Professur in Rostock übernahm, neunzehn
Jahre in den Niederlanden beschert, und seit 2007 die Leitung eines
Instituts in Wien. Er hat also seit 1977 die meiste Zeit in angemessener
Distanz zu unseren Kämpfen gelebt und tut es immer noch, und auch von
diesem Glück teilt sich in dem schönen Buch manches mit.
10 Mar 2013
## AUTOREN
Jochen Schimmang
## TAGS
Helmut Lethen
Buch
Literatur
Niederlande
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