# taz.de -- Porträt eines Verschwundenen: „Ein Mensch mit zwei Gesichtern“ | |
> Der holländische Autor Joris van Casteren hat die noch nicht vollständig | |
> rekonstruierte Geschichte des verschwundenen Deutschen Stephan Hensel | |
> recherchiert. | |
Bild: Konnte Stephan Hensel den Unfall mit der Schiffsschraube vielleicht über… | |
taz: Herr van Casteren, der kleine niederländische Ort Wijhe liegt an dem | |
Fluss IJssel. 2005 wurde dort ein Bein angeschwemmt. Wie sah das Bein genau | |
aus? | |
Joris van Casteren: Es war ein Unterschenkel, an dem noch die Kniescheibe | |
und ein Stückchen Oberschenkel festsaßen. Der Oberschenkel war mit Gewalt | |
vom Körper getrennt worden. Der Fuß aber war unversehrt. Er steckte in | |
einer braunen Nike-Socke. | |
Wie kam es zu diesem Unglück? | |
Die Polizei geht davon aus, dass das Bein von einer Schiffsschraube | |
abgehackt wurde. Da es später in einem Kindersarg in der Nähe von Wijhe | |
bestattet wurde, müsste man es für diese Untersuchung aber ausgraben. Denn | |
von einer Schiffsschraube müssten noch kleine Metallstücke im Knochen | |
stecken. Aber da die Untersuchung des Beins schon enorme Kosten verursacht | |
hat, haben die Behörden kein Interesse daran. | |
Wie haben Sie von dem Bein in der IJssel erfahren? | |
Durch einen Beitrag im niederländischen Fernsehen. Sowas wie „Aktenzeichen | |
XY“. Solche Sendungen gucke ich gerne! | |
Der Rest des Körpers, der ja noch leben könnte, wurde bis heute nicht | |
gefunden, oder? | |
Das ist das Interessante an dieser Geschichte! Meist werden von Körpern, | |
die in Schiffsschrauben geraten sind, mehrere Teile an verschiedenen | |
Stellen gefunden. Dann weiß man sicher, dass der Mensch nicht mehr lebt. Im | |
Falle des IJssel-Beins war das anders. | |
Wann begannen Sie, sich mit dem Bein zu beschäftigen? | |
2005 bin ich zunächst nicht sehr weit gekommen und habe die Recherche | |
wieder aufgegeben. Aber 2011 kam heraus, dass das Bein einem gewissen | |
Stephan Hensel gehörte, der 2005 in Düsseldorf unter ungeklärten Umständen | |
verschwand. Seither habe ich nonstop recherchiert. Ich bin in dieser Zeit | |
nicht nur in Wijhe, sondern auch mehrfach in Stephan Hensels Heimatstadt | |
Hamburg und in Düsseldorf gewesen. | |
Sie kommen in Ihrem Buch Stephan Hensel von Kapitel zu Kapitel näher, auch | |
weil sein früherer Chef, seine Jugendfreunde und seine Exfreundin offen | |
über ihn sprechen. So entstand ein präzises Porträt des Verschwundenen. Was | |
für ein Mensch kam da nach und nach zum Vorschein? | |
Ein Mensch mit zwei Gesichtern: Einerseits war er ein gut funktionierender | |
Angestellter. Andererseits ein sehr verletzter und innerlich kaputter Mann, | |
der nur einen Koffer besaß, mit dem er bei seiner jeweiligen Freundin | |
einzog. In größeren Abständen verschwand er übers Wochenende in irgendeinem | |
Rotlichtviertel, wo er auch Kokain nahm. Er konnte dort 24 Stunden am Stück | |
in einem Bordell verbringen und wahnsinnig viel Geld ausgeben. | |
Doch mit furchtbaren Schuldgefühlen war er dann montags als Erster – | |
manchmal schon um sechs Uhr morgens – zurück im Büro. Bei der Arbeit war er | |
für seine Zuverlässigkeit und sein Verkaufsgeschick bekannt. Diese Fassade | |
hat er jahrelang aufrecht erhalten, und es war den meisten Menschen um ihn | |
herum gar nicht bewusst, an was für einem Abgrund er die ganze Zeit stand. | |
Was waren für Sie Ihre zentralen Rechercheerfolge? Wann dachten Sie: Mit | |
dieser Information komme ich nun ganz sicher weiter? | |
Mir haben vor allem bestimmte Menschen sehr geholfen: ein fleißiger | |
Ermittler aus Zwolle, Stephan Hensels früherer Chef bei der Firma Secumar | |
und ein deutscher Staatsanwalt. Das Wichtigste aber war, dass ich Hensels | |
Exfreundin letztendlich in der Nähe von Rostock aufspüren konnte. Zu ihr | |
bin ich einfach hingefahren und habe an der Haustür geklingelt. | |
Es war natürlich verrückt, 600 Kilometer zu fahren, ohne zu wissen, ob | |
diese Frau mir nicht die Tür vor der Nase zuschlägt. Aber dann hat sie sich | |
sogar gefreut, dass da jemand kam, mit dem sie ernsthaft über ihren | |
verschwundenen Exfreund sprechen konnte. | |
Und Sie dachten nicht, dass es zu weit geht, unangemeldet bei der Efreundin | |
des Verschwundenen Stephan Hensel zu klingeln? | |
Das war natürlich etwas obsessiv. Aber ich konnte nicht anders, es steckte | |
schon so viel Arbeit in dieser Recherche, dass ich einfach mit ihr sprechen | |
musste! Es war wichtig, um das Porträt von Stephan Hensel, das mein Buch ja | |
schließlich geworden ist, abzurunden. Ich habe ihr alles über meine | |
Recherche erzählt und wäre auch ganz höflich wieder weggegangen, wenn sie | |
nicht mit mir hätte sprechen wollen. | |
Sie nennen in Ihrem Buch auch zahlreiche Firmen-, Orts- und Personennamen. | |
Außerdem Autokennzeichen. Hätten Sie diese Details nicht abkürzen oder ganz | |
weglassen müssen? | |
Ein paar Namen habe ich anonymisiert, weil die Befragten ausdrücklich nicht | |
mit Namen genannt werden wollten. Aber sonst? Stephan Hensel habe ich | |
namentlich erwähnt, weil seine Freunde meinten, er hätte sich bestimmt | |
darüber gefreut. | |
Sie haben sich Ihren Gesprächspartnern als Schriftsteller vorgestellt. Als | |
was sehen Sie sich mehr, als Schriftsteller oder als Journalist? | |
Recherche und Literatur greifen für mich immer ineinander. Wenn ich etwa | |
die Geschichte des Beins in der IJssel untersuche, ist dies das Material | |
für ein Kunstwerk: Stephan Hensel ist womöglich ertrunken, aber er hat auch | |
bei einer Firma gearbeitet, die mit Schwimmwesten handelt. Zudem ist er im | |
Urlaub gerne tauchen gegangen. | |
Und im Rotlichtviertel ist er ja auch ab und zu mal untergetaucht. Sowas | |
kann man sich doch gar nicht ausdenken! Oder es würde in einem Roman total | |
billig wirken. Man muss die wahren Geschichten bloß aufzuspüren wissen. Ich | |
sehe die Menschen, von denen ich in meinem Buch erzähle, auch alle als | |
literarische Figuren, selbst wenn ich sie nicht erfunden habe. | |
Sie treten auch selbst als Rechercheur in diesem Buch auf. Warum tragen Sie | |
nicht nur die Fakten zusammen, sondern beschreiben auch Ihre persönlichen | |
Eindrücke bei einem Gespräch? | |
Ich trete seit meinem vorletzten Buch persönlich in meinen Büchern auf. In | |
dem Buch ging es um Lelystad. Lelystad wurde ja mal als | |
sozialarchitektonische Utopie entworfen, was aber total schief gegangen | |
ist. Ich bin selbst in Lelystad aufgewachsen, und deshalb war meine | |
Anwesenheit im Buch sehr wichtig. Außerdem ist es oft ja gerade die | |
Anwesenheit des Autors, die die Dinge erst ins Rollen bringt. | |
Auch meine Gesprächspartner für „Het been in de IJssel“ haben nicht ins | |
Blaue hineingeredet, sondern sie haben mir ihre Version der Geschichte | |
erzählt. Das hat dann in mir ganz bestimmte Gedanken ausgelöst, die | |
wiederum meine Recherche beeinflusst haben. | |
Sie haben schon zahlreiche Reportagebücher über sehr unterschiedliche | |
Themen vorgelegt. Wann beginnt ein Thema, Sie zu reizen? | |
So unterschiedlich sie auch zunächst wirken, meine Bücher erzählen alle von | |
Antihelden, von den Schattenseiten des menschlichen Daseins. Sei das nun | |
meine Serie über noch lebende, aber vergessene Dichter und Autoren, mein | |
Buch über Lelystad oder mein Buch über den verschwundenen Stephan Hensel. | |
Ihr Buch steckt voller Details. Haben Sie die einzelnen Kapitel, die | |
chronologisch von Ihren Recherchen erzählen, jeweils sofort geschrieben? | |
Oder wie konnten Sie die Fülle an Eindrücken später rekonstruieren? | |
Ich habe erst sehr viel Material gesammelt. Ich muss immer erst alles über | |
eine Geschichte wissen, bevor ich etwas darüber schreiben kann. | |
Sie haben viel über den verschwundenen Stephan Hensel herausgefunden, ihn | |
selbst aber nicht gefunden. Ist seine Geschichte für Sie nun abgeschlossen? | |
Erstmal ist die Geschichte abgeschlossen, denn mehr Informationen konnte | |
ich nicht zusammentragen. Aber wer weiß das schon? Vielleicht bekomme ich | |
durch dieses Interview wieder neue Hinweise! | |
Glauben Sie, dass Stephan Hensel noch lebt und dass er Ihr Buch irgendwann | |
auch selbst lesen wird? | |
Es wäre wunderbar, wenn er das Buch lesen würde! Aber das ist leider nicht | |
sehr wahrscheinlich. | |
29 May 2013 | |
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