# taz.de -- Skandinavisches Træna-Festival: Melodien am Polarkreis | |
> Das Træna-Festival ist der wohl abgelegenste Konzertmarathon der Welt. | |
> Dafür reisen Musikfans sogar per Boot zu den kleinen Inseln am | |
> norwegischen Polarkreis. | |
Bild: Die Naturidylle wird jedes Jahr mit 2.000 Gästen zum Schauplatz des musi… | |
Fast egal, von wo aus man losfährt: Man braucht mindestens einen Tag, um | |
zum Trænafestivalen zu gelangen, dem wohl abgelegensten Musikfestival der | |
Welt. Seit 11 Jahren findet es auf einer nordnorwegischen Inselgruppe am | |
Polarkreis statt, wo im Sommer 23 Stunden am Tag die Sonne scheint – | |
zumindest theoretisch. | |
In der Praxis lässt sie sich in diesem Jahr bitten. Aber dazu später. Die | |
strapaziöse letzte Reiseetappe besteht aus einem sechsstündigen Bootstrip. | |
Ob man sich dabei nun von seinem Mageninhalt trennt oder nicht – und das | |
tun alle Passagiere, die nicht auf den vom umsichtigen Reiseleiter | |
bereitgelegten Ingwerknollen herumkauen und den Horizont fixieren: Man | |
fühlt sich plötzlich wie ein Tamagotchi, völlig entprogrammiert. | |
Als man schon nicht mehr daran glaubt, dass die Achterbahnfahrt durch den | |
Nordatlantik auch einmal endet, ragt die markante, in Wolken gehüllte | |
Bergsilhouette von Træna aus dem Meer. So weit ab vom Schuss war man | |
selten. | |
Andere haben sich für die Anreise weit mehr Zeit gelassen: zwei Hippies zum | |
Beispiel, die auf einer nicht gerade seetüchtigen Nussschale voller Gras | |
aus Oslo hergesegelt sind. Vier Wochen waren sie unterwegs. Zahlreich auch | |
die Festivalbesucher, die in der eigenen Yacht angeschippert sind. | |
## Konsequente Entprogrammierung durch Alkoholkonsum | |
Dass Norwegen ein reiches Land ist, spätestens an der Bootsflotte lässt | |
sich das ablesen, die im Hafen vor Anker liegt. Das Catering nicht zu | |
vergessen: Neben Walburgern und unglaublich leckerem, vergleichsweise | |
günstigen Sushi – alles, was hier angeboten wird, stammt aus dem Meer – hat | |
anlässlich des Festivals ein Pop-up-Restaurant eröffnet: Das | |
Fünf-Gänge-Menü kostet umgerechnet 180 Euro. | |
Etwa ein Drittel der gut 2.000 Gäste stammt aus dem Ausland, gefühlte 80 | |
Prozent davon aus der Schweiz – vielleicht weil die Eidgenossen das nötige | |
Kleingeld und angemessene Outdoor-Ausrüstung mitbringen. Da das Festival | |
bereits im März ausverkauft war, bevor ein einziger Act feststand, und weil | |
die 200 Euro für ein Drei-Tages-Ticket nur das Tüpfelchen auf dem i einer | |
kostspieligen Reise sind, leisten viele Fans freiwillige Arbeit. Als | |
Gegenleistung für zwei Schichten gibt es freien Eintritt und Essen. | |
Im Geiste ist das Festival trotz des internationalen Interesses eine sehr | |
norwegische Angelegenheit. Nicht nur, weil der Umstand, dass es in diesem | |
Jahr so kalt und nass ist wie noch nie in elf Jahren, niemandem die Laune | |
verdirbt. Sondern auch, weil das Projekt der weiteren Entprogrammierung | |
durch Alkoholkonsum mit einer Konsequenz betrieben wird, wie man sie nur in | |
Skandinavien kennt. | |
Die Atmosphäre bleibt dennoch freundlich. Überhaupt scheint Alkohol hier | |
ein breiteres Wirkungsspektrum abzudecken als hierzulande: Gelegentlich | |
redet jemand einen solchen Unsinn, als wäre er in LSD-Bowle gefallen – und | |
ist doch nur sehr betrunken. Im Partyzelt, wo man alles geben darf, wenn | |
das Bühnenprogramm vorbei ist, lassen es sich die euphorisierten Massen | |
nicht nehmen, die Kitsch-Hymne „We Are the World“ anzustimmen, als der | |
Stecker für diese Nacht endgültig gezogen wird. Den Ausstieg aus dem | |
glücksseligen Moment finden sie erst, als das DJ-Duo The Bettys den Stecker | |
noch mal reinsteckt und das Original anspielt. Irgendwann ist zum Glück | |
jeder Song zu Ende. | |
## Lokale Talente geben den Ton an | |
350 Menschen wohnen ständig auf der Insel. Darunter auch Anita Overlev, | |
eine toughe, großherzige und bodenständige Frau, einzige Vollzeitkraft des | |
Festivals. Fast alle Insulaner helfen mit, obwohl sie dafür allenfalls | |
einen Obolus erhalten. Logistik ist die größte Herausforderung: All die | |
Menschen auf die Insel und wieder aufs Festland zu bringen, sie drei Tage | |
lang zu verpflegen, erfordert Planung. Und falls die Technik streikt, gibt | |
es keinen Elektronikmarkt, in dem man sich mit Ersatzteilen bedienen kann. | |
Seit 2005 managt Overlev den Wahnsinn. Sie sagt von sich, dass sie | |
eigentlich keine Musik mag, was wohl nordnorwegischer Humor ist. Denn sie | |
ist mit Erling Ramskjell liiert, dem einzigen Popstar der Insel. Wenn | |
Erling, der seine Songs auch unter den Projektnamen Æ und Schtimm | |
veröffentlicht, zu Hause ist, arbeitet er als Fischer – so wie die meisten | |
Bewohner Trænas. | |
Im Festivalbetrieb tritt Ramskjell nur als Chauffeur in Erscheinung: | |
Schade, denn ein paar mehr sehenswerte Acts könnte das Line-up gebrauchen. | |
Das Booking managt der Festivalgründer Erlend Mogard Larsen – und leider | |
ist es, zumindest in diesem Jahr, der Schwachpunkt dieser grundsätzlich | |
eindrucksvollen Veranstaltung. | |
Vielleicht verlässt man sich zu sehr auf das spektakuläre Setting. Dass man | |
lokalen Talenten ein Forum geben will, ist ein naheliegender Aspekt bei der | |
Auswahl und toll für die Besucher: So lernt man Musik kennen, der man | |
niemals sonst Aufmerksamkeit schenken würde – dem atmosphärisch dichten | |
Synthiepop der norwegischen Maud etwa oder den vertrackten Songs der | |
Postrocker Kråkesølv, die einen Akustik-Gig in der Dorfkirche spielen. | |
## Splitternackt im Regen | |
Das internationale Programm wirkt dagegen arg beliebig. Die sympathischen | |
Jungs von Vintage Trouble, die wir bereits auf der Überfahrt beim | |
Ingwerkauen kennen gelernt haben, entpuppen sich als | |
Bluesrock-Soul-Revival-Band, die eher nach Las Vegas als an den Polarkreis | |
passt. Was am deutschen Reggae-Künstler Patrice so interessant ist, dass | |
man ihm den Headliner-Slot gibt, erschließt sich so wenig wie der | |
Bierzeltspaß der Balkan-Band Dubioza Kolektiv. Auch die gegenwärtig schwer | |
gehypte Charli XCX erweist sich als Flop. | |
Auf CD mag ihr leicht verzopfter Euro-Trash funktionieren, vor einem in | |
Thermounterwäsche gepackten Publikum haucht sie ihrem pseudolasziven | |
Konservenpop kein Leben ein. Dafür bietet wenigstens das Londoner | |
Cabaret-Dubstep-Duo The Correspondents großes Tennis. | |
Höhepunkt für die norwegischen Besucher ist die One-Man-Show der Bare Egil | |
Band, zu der nonstop gelacht wird. Zwei Jungs erklären mir, dass Egil über | |
Schuhe singt. Ach so. Ist ja auch das Einzige, was der zunächst in | |
Unterhose, dann splitternackt dem Wind und Regen trotzende | |
Rauschebart-Wikinger trägt. | |
Als dann in der letzten Nacht die Festivalgemeinde zum Abschlusskonzert auf | |
einen windigen Hügel zur Dorfkapelle pilgert, um auf der Wiese den | |
Ambient-Fricklern Biosphere zu lauschen, reißt nach drei wolkenverhangenen | |
Tagen der Himmel auf, als wolle die Sonne die Festivalgäste für ihre | |
Standfestigkeit belohnen. Da ist sie endlich, die berühmte | |
Mitternachtssonne – und produziert einen magischen Sonnenaufgang. | |
Währenddessen kreisen Möwen, von denen ein Einheimischer behauptet, dass es | |
sich um eine besonders gierige Subspezies handelt, die nur zu diesem Anlass | |
auf die Insel kommt, über dem Festivalgelände wie im Alfred-Hitchcock-Film | |
„Die Vögel“ und kämpfen um die Reste der Walburger. Die Natur hat die Ins… | |
wieder. | |
19 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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