| # taz.de -- Kolumne Vollbart: Meine Bachblüten nehme ich brav ein | |
| > Eine Zeitlang habe ich Buch geführt über meine Tagesaktivitäten - ganz im | |
| > Sinne der Selbstoptimierung. Aber dieser Zwang zur Tagesbilanz führt | |
| > irgendwie zu nichts. | |
| Bild: Beliebt zur Selbstoptimierung: Öffentliches Yoga in Ottawa. | |
| Der Italienurlaub ist vorbei. Der Bart wieder voll. Und die Brille neu: | |
| durchsichtig, rund. Die, die Andy Warhol auch anhatte. | |
| So viel zu den Veränderungen. Braun bin ich allerdings nicht geworden – | |
| dafür aber erholt. Jetzt will ich natürlich ans Meer nach Italien ziehen – | |
| trotz Berlusconi, trotz Arbeitslosigkeit, trotz des schlechten | |
| Fernsehprogramms. | |
| Stattdessen hocke ich jedoch wieder in Berlin. Und werde mit dem | |
| Alltagsstress einer Großstadt konfrontiert. Fahrradfahrer, die auf dem | |
| Gehweg fahren – die Pest. Bahnpassagiere, die, sobald die Tür aufgeht, sich | |
| auf die Plätze stürzen – die Hölle. Wahlplakate mit hässlichen Menschen | |
| drauf – die Qual. Und wie eine verwirrte Oma stehe ich jedes Mal vor diesen | |
| Plakaten und schreie die Kandidaten an. So weit ist es schon mit mir | |
| gekommen. | |
| Und noch etwas ist neu. Ich führe mittlerweile Buch über all meine | |
| Aktivitäten – selbstverständlich auch darüber, wen ich wann anschreie. Das | |
| machen wir jungen Menschen ja jetzt so – ganz im Stile der | |
| Quantified-Self-Bewegung. Die Selbstoptimierung. Immer mehr sein wollen. | |
| Das Beste aus seinem Körper, seinem Hirn, seinem Schwanz rausholen. Da ich | |
| aber ja gleichzeitig auch Teil der Generation bin, die sich so gerne in | |
| Reminiszenzen verliert, benutze ich nicht irgendwelche bekloppten | |
| Smartphone-Apps, die mir sagen, wie hoch meine Herzfrequenz ist, mich an | |
| Termine erinnern und Auskunft über meinen Schlafrhythmus geben. Nein, ich | |
| benutze total verrückt ein Notizbuch und einen Füller, dabei rauche ich | |
| dann Pfeife. Gut, Letzteres stimmt nicht wirklich. Schon allein das Bild | |
| von mir mit einer Pfeife löst Brechreiz bei mir aus. | |
| Wie auch immer. In dieses Buch schreibe ich also, mit wem ich mich | |
| getroffen habe, wie viel ich gearbeitet habe, was ich gegessen habe. Ich | |
| schreibe, wie oft ich jemanden geküsst habe, wie viele Espressi ich | |
| getrunken habe, ob ich zum Yoga gegangen bin, welche Fernsehserie ich | |
| geschaut habe, welche Obsession mich gerade umtreibt, ob ich meine | |
| Bachblüten und mein Magnesium genommen habe und so weiter. | |
| ## Wie öde mein Leben ist | |
| Nach einer Woche langweilt mich mein eigenes Leben so sehr, und ich höre | |
| mit dieser Methode wieder auf. Dieser Zwang zur Tagesbilanz führt irgendwie | |
| zu nichts. Ich werde nicht besser, sondern bekomme dadurch nur vor Augen | |
| geführt, wie öde mein Leben ist – und auch, wie sehr ich es eigentlich so | |
| mag. | |
| Ich rede sowieso am meisten mit denselben Leuten, nämlich B. und F. Ich | |
| küsse immer dieselbe Person, nämlich L. Ich bin besessen von animierten | |
| „Beverly Hills 90210“- und „Mord ist ihr Hobby“-Bildchen. Zum Yoga gehe… | |
| nie. Meine Bachblüten nehme ich aber brav ein. Und ich schaue gerade nur | |
| eine Serie – und zwar „Orange Is the New Black“. | |
| Das aber auf die schönste Art und Weise. Bis drei Uhr nachts – immer ein | |
| Folge mehr. Wenn die Selbstoptimierung und Quantitätskontrolle eines zeigt, | |
| dann ja wohl, dass der schönste Moment des Tages genau dieser ist: | |
| gemeinsam mit L. im Bett. | |
| 24 Aug 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Enrico Ippolito | |
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