| # taz.de -- Kolumne: Vollbart: Bachblüten sind dabei.. | |
| > .. aber nicht um den Hals gehängt. | |
| Bild: Auch wenn der junge Mann auf dem Bild sich gerade den Vollbart abrasiert … | |
| F und B. sitzen draußen vor der Galerie „Team Titanic“ in Neukölln, in der | |
| L. ausstellt. Ich hole meine Pipettenflasche raus, die ich sorgsam zu Hause | |
| mit drei verschiedenen Bachblüten und gefiltertem Wasser zubereitet habe. | |
| Glyzerin zur Konservierung hatte ich nicht im Haus – Brandy leider auch | |
| nicht. Während ich mir also vier Tropfen in mein Wasserglas tröpfle, | |
| schauen mich F. und B. irritiert an. L. kennt schon das ganze Prozedere, | |
| weil ich ihn damit schon vollgelabert und ihn außerdem gezwungen habe, sich | |
| YouTube-Videos über die Zubereitung von Bachblüten anzuschauen. | |
| F. denkt natürlich, ich dreh jetzt völlig durch, wie es sich eben für eine | |
| Ostwestfalin gehört. Mit Esoterik und so können die halt nicht. F: „Ich | |
| hatte mal so einen Kristall um den Hals, der sah scheiße aus und hat nichts | |
| gebracht“, sagt sie. Ich mag auch Kristalle, kaufe mir aber nicht diese | |
| trashige Variante, von Pseudohippies hergestellt. „Aber das Flakon der | |
| Bachblüten sieht gut aus“, erwidere ich. Egal, für F. und B. bin ich jetzt | |
| der Eso-Typ. Der schwule beste Freund hat mal eine Auszeit. | |
| Eine Woche später, die Ausstellung von L. ist wieder vorbei, fahren L. und | |
| ich nach Mitte. Die Bachblütenpipettenflasche trage ich immer noch in der | |
| Tasche rum. Wir sind auf dem Weg zum Boros Bunker. Dieser Bunker war wohl | |
| in den Neunzigern der Technoclub in der Stadt. Also bevor es das Berghain | |
| gab – ja, es gab ein Leben vor dem Berghain. Der Bunker war voller harter | |
| Musik und hartem Sex – auf 3.000 Quadratmetern. Im Gegensatz zum Berghain | |
| waren die Besitzer des Bunkers aber cool genug, ihren Club illegal laufen | |
| zu lassen. Gut, auch ein Grund, wieso eben jetzt der Bunker kein Club mehr | |
| ist, sondern eine Privatsammlung zeitgenössischer Kunst. 130 Arbeiten von | |
| 22 Künstlern. Und nicht irgendwelchen Künstlern, sondern mit den ganz | |
| Großen. Klara Lidén, Thomas Ruff, Ai Weiwei, Tomás Saraceno, Alicja Kwade, | |
| Michael Sailstorfer, Wolfgang Tillmans – um nur ein paar zu nennen. | |
| Von Letzterem entdecke ich einen Schnappschuss aus den Neunzigern, der an | |
| die heutige Streetstyle-Fotografie erinnert. Ein junger Mann, vielleicht | |
| nach einem Clubbesuch, steht vor einem Zaun. Um den Hals hängt ein Beutel. | |
| Genauso einen trage ich auch um meinen Hals. B. und F. sterben vor Neugier, | |
| weil ich ihnen nicht sage, was drin ist. Das weiß übrigens keiner – es sind | |
| keine Bachblüten. Dieses Foto aber zeigt, wie sehr sich ein Stil | |
| wiederholt. Wir denken alle hier in Berlin, wahnsinnig individuell zu sein | |
| und alles neu erfunden zu haben. Haben wir aber nicht. Stattdessen drehen | |
| wir uns ständig im Kreis und wiederholen uns. Das ist an sich nichts | |
| Schlimmes, es sollte nur allen bewusst sein, damit eventuell aus all dem | |
| Alten was Neues entsteht. | |
| Deswegen ist der Vollbart jetzt wieder ab. Dieses Foto hat eine Epiphanie | |
| ausgelöst. Gut, das ist gelogen, klingt aber gut. Der Bart ist ab, weil ich | |
| in Urlaub fahre. Und einfach braun werden will. | |
| 19 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Enrico Ippolito | |
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