# taz.de -- Kolumne Vollbart: Schöne Stadt, schöne Körper | |
> Ich kann nicht mal am Hermannplatz vorbeilaufen, ohne idiotische | |
> Bemerkungen zu hören, meistens von Menschen mit Flip-Flops. | |
Bild: Das ham wer gerne: Herkommen, einen auf Berlin machen und nur das Berghai… | |
Nachtzug Paris–Berlin. Ein Umzug nach Deutschland. Vollgepackt bis oben | |
hin. Schweiß überall. | |
Wegfahren hilft, um zu merken, wie schön Berlin eigentlich ist. Klar, es | |
gehört mittlerweile zum guten Ton, sich ständig über die Stadt zu | |
beschweren. Zu dreckig, zu prätentiös, zu selbstverliebt. | |
Aber manche Konversationen kotzen mich ernsthaft an, und ich will sie auch | |
nicht mehr führen. Er: „Ich liebe Berlin. War da erst vor zwei Wochen und | |
habe drei Tage im Berghain gefeiert.“ Ich: „Und hast du sonst noch was | |
gesehen?“ Er: „Nein, aber das Berghain ist halt geil.“ Alles ist geil, we… | |
du Idiot dich mit Drogen vollpumpst, denke ich. Ich lächle ihn an und sage: | |
„Geh doch nächstes Mal nach dem Berghain ins Museum, die gibt es auch in | |
der Stadt.“ Bisschen Kulturerziehung schadet ja nie. | |
Im Zug ist es Nacht. L. und ich haben unsere Kisten verstaut, dort, wo die | |
Zuggäste ihre Fahrräder befestigen können. Sofort kommt ein Paar und macht | |
uns auf seine Fahrradmitnahmereservierung aufmerksam. Natürlich sind alle | |
anderen Halter frei, aber reserviert ist reserviert, und Nummer ist Nummer. | |
Natürlich sehen alle, wie beladen L. und ich sind, helfen will uns aber | |
keiner – außer zwei jungen Mexikanern, die gerade ebenfalls auf dem Weg | |
nach Berlin sind. Interessanterweise helfen uns die ganze Zeit auf unserer | |
Reise nur Ausländer. | |
16 Stunden später. Wir sind in Berlin. Der Busfahrer motzt wegen des | |
Gepäcks, der Abgeordnetenhausmitarbeiter macht keinen Platz im Bus, obwohl | |
noch mindestens 20 Plätze frei sind. Ach Berlin, ich mag dich. Ich bin zu | |
Hause. | |
Kaum angekommen, treffe ich mich mit F. und B. zur obligaten Apfelschorle | |
herb am Kanal. B. schaut an mir runter und sagt: „Du hast geschwollene | |
Füße“. Ich schau an ihr hoch. | |
Sie hat recht. Seit gestern fühle ich mich deshalb auch wie eine dicke, | |
schwangere Frau. F. sagt: „Du wirst ein guter Vater.“ Ich? Vater? Ich | |
kommentiere das mal besser nicht. | |
Gut, jetzt trage ich kein neues Leben in mir, sondern bin offensichtlich | |
nur allergisch gegen Mückenstiche. Und da der Sommer ausgebrochen ist, | |
sehen alle meine blassen Beine, meine Füße, meine Haare auf den Schultern | |
und meine infizierten Mückenstiche. Eine Steilvorlage für B. und F., über | |
diverseste Körperteile zu lamentieren. Ich finde mich untenrum super, aber | |
obenrum, also den Torso, nicht so, sagt F. Bei B. ist es andersrum. Für | |
mich sind B. und F. perfekte Wesen, aber wahrscheinlich bin ich das auch | |
für sie. | |
Zumindest eher als für andere: Wenn ich mich an die Zugfahrt und die Blicke | |
der anderen Gäste erinnere, scheinen auch L. und ich für viele ungewöhnlich | |
und bizarr zu sein – wegen der Bärte, der Behaarung, des Stils. Okay, das | |
ist jetzt gelogen. L. ist niemals hässlich. Mich hingegen schauen die Leute | |
oft komisch von der Seite an. Ich kann nicht mal am Hermannplatz | |
vorbeilaufen, ohne idiotische Bemerkungen zu hören, meistens von Menschen | |
mit Flip-Flops. Das hat meine Ich-Empirie ergeben, und die muss doch | |
zählen. Übrigens der Grund, wieso ich den meisten Menschen, die Flip-Flops | |
tragen, auf die Füße pinkeln will. | |
21 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Enrico Ippolito | |
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Berlin | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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