| # taz.de -- Shlomo Bistritzky über orthodoxes Judentum: "Mir kommt der Glaube … | |
| > Rabbi Shlomo Bistritzky, der in Hamburg die konservativen Lubawitscher | |
| > Juden vertritt, plädiert dafür, die Gesetze der Tora genau zu befolgen. | |
| > Alles andere sei eine Gefahr für das Judentum. | |
| Bild: Passt als orthodoxer Jude sein Leben an die Gesetze der Thora an: Shlomo … | |
| taz: Herr Bistritzky, befolgen Sie alle 613 jüdischen Gesetze? | |
| Shlomo Bistritzky: Nein. Der größte Teil ist ja gar nicht aktuell. | |
| Wie praktisch. | |
| Jedenfalls hätten wir sonst keine Zeit, uns hier zu unterhalten. 613 Regeln | |
| - das klingt erst mal viel. Aber die meisten davon galten vor 2.000 Jahren, | |
| als der Jerusalemer Tempel noch stand. Dann gibt es Regeln, die nur in | |
| Israel gelten - sowie Regeln nur für Frauen oder Männer. Manche gelten nur | |
| an Feiertagen. Da bleiben für einen normalen Tag keine 613 Gesetze. Auch | |
| nicht 100. | |
| Wer hat diese Gesetze verfasst? | |
| Sie stehen in der Tora - dem, was die Christen Altes Testament nennen. Für | |
| Juden ist die Tora ein Weisheits- und Lehrbuch. Einige Weise haben daraus | |
| eine Liste an Ge- und Verboten erstellt. | |
| Wie haben sie das getan? | |
| Sie haben die Texte studiert und gesagt, Moses hat das und das verkündet, | |
| also haben wir hier ein Gebot. Später hat man dazu Erklärungen verfasst und | |
| sie im Talmud zusammengetragen. | |
| Gibt es moderne Auslegungen? | |
| Die Tora wurde vor ein paar hundert Jahren geschrieben. Und wie jedes | |
| Gesetz muss es aktualisiert werden. Dabei muss man aber unterscheiden | |
| zwischen der Tora und weltlichen Gesetzen. Letztere leiten sich ab aus | |
| Alltagserfahrungen: Wenn auf einer Straße viele Unfälle passieren, führt | |
| man Tempo 30 ein. Die Tora dagegen enthält Gottes Gesetze. Sie ändern sich | |
| nie. | |
| Aber die Welt. | |
| Natürlich. Dann müssen wir überlegen: Wie ist die aktuelle Situation mit | |
| der Tora vereinbar? | |
| Sind sich da alle Juden einig? | |
| Nein. Der Reformjude sagt: Diese Gesetze passen nicht mehr in unsere Zeit. | |
| Wir passen die Tora unserem Leben an. Orthodoxe Juden sagen: Wir passen | |
| unser Leben an die Tora an. | |
| Haben Sie ein Beispiel? | |
| Vor zehn Jahren war ein Israeli an Bord der Raumfähre Columbia. Da er der | |
| erste Jude war, der ins All flog, ging er zum Rabbi der NASA und fragte, | |
| was kann ich im All für das Judentum tun? Konkret ging es um das Kiddusch, | |
| bei dem man den Shabbat mit einem Glas Wein einleitet. Der Astronaut wollte | |
| das jeden Samstag praktizieren. Aber wann genau ist im All Samstag? Dort | |
| dauert ein Tag ja nur drei Minuten. Und wenn der Astronaut alle 21 Minuten | |
| ein Glas Wein trinkt, kann er gleich unten bleiben … | |
| Was hat der Rabbi gesagt? | |
| Er wusste keine Antwort und hat die Frage weitergeleitet an den Großrabbi | |
| in Jerusalem. Der entschied, dass der Astronaut Kiddusch feiern sollte, | |
| wenn am NASA-Stützpunkt Samstag wäre. Das hat man abgeleitet aus einem | |
| Talmud-Text, wo jemand ohne Kalender in der Wüste war und fragte, wann er | |
| Shabbat halten sollte. Das ist ein Beispiel dafür, wie man die passende | |
| Geschichte zu einer neuen Situation findet. | |
| Kann man die alten Regeln also doch abwandeln? | |
| Nicht abwandeln. Aber eine der Tora gemäße Antwort finden. Denn es ist zwar | |
| leichter, meinen Lebensweg zu gehen und dann zu fragen: Wie kann ich die | |
| Tora daran anpassen? Aber das ist eine Gefahr für das Judentum. | |
| Inwiefern? | |
| Es geht Sicherheit verloren: Wenn ich etwas ändere, damit es mir leichter | |
| fällt, werden meine Kinder und Enkel weiteres ändern. Irgendwann ist die | |
| Verbindung zwischen dem Juden und der Tora gekappt. | |
| Warum ist es Ihnen so wichtig, die Gesetze exakt zu befolgen? | |
| Ich bin sicher auf meinem Weg. Und obwohl es manchmal schwierig ist, weiß | |
| ich: Das ist der Weg. Denn wenn ein Mensch gläubig ist, muss er erst mal | |
| verstehen, dass man beim Glauben nicht alles versteht. | |
| Man könnte ja sagen: Diese Regel wirkt plausibel, jene nicht. | |
| Mir kommt auch der Glaube an Gott plausibel vor. Meine Frau und ich haben | |
| vor kurzem ein Baby bekommen. Es ist gesund und "funktioniert". Das kann | |
| nur von Gott kommen. Andererseits schließt der Glaube nicht aus, dass ich | |
| Fragen habe. Zum Beispiel: "Wie konntest du die Shoah zulassen?" Diese | |
| Frage stört aber nicht meinen Glauben. Wenn ich Gottes Existenz leugnete, | |
| würde ich ihn ja nicht ansprechen. | |
| Gibt es für die Shoah eine Antwort? | |
| Ich kenne sie nicht, aber ich glaube, dass Gott uns wohl will. Dazu fällt | |
| mir die Geschichte von dem Mann ein, der erstmals aus dem Dorf in die | |
| Großstadt kommt. Dort sieht er, dass der Arzt im Krankenhaus einen | |
| Patienten aufschneidet. Der Dörfler schreit: "Was machst du, du bringst ihn | |
| um!" Er weiß nicht, dass man schneiden muss, um den Kranken zu heilen. | |
| Und die Shoah? | |
| Gott hat ein Messer genommen, sechs Millionen Juden umgebracht, und wir | |
| verstehen das nicht. Aber egal, wie stark die Frage sein wird: Der Glaube | |
| bleibt fest. | |
| Sie sind als Gesandter von Chabad Lubawitsch nach Hamburg gekommen. Manche | |
| sagen, Sie missionierten, und das sei den Juden verboten. | |
| Was heißt missionieren? | |
| Anderen Leuten einen Glauben aufnötigen. | |
| Wer ist "andere Leute"? Nehmen wir die Christen: Sie gehen auf die Straße, | |
| treffen jemanden und sagen: Ich bin Christ, ich will über den Glauben | |
| sprechen. Der andere sagt: Ich bin nicht gläubig. Sie drohen, ihn zu | |
| zwingen. Sie versuchen etwas, das mit dem Menschen nichts zu tun hat. | |
| Sie tun das nicht? | |
| Nein. Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder laut jüdischem Gesetz | |
| konvertiert ist. Ich versuche ihm das, was sowieso zu ihm gehört, | |
| beizubringen. Ich kann sagen: "Du bist jüdisch. Du weißt es nicht - aber | |
| wir haben Shabbat. Wenn du willst, kann ich dir das erklären." Das ist weit | |
| vom Missionieren entfernt. | |
| Warum sind Sie ausgerechnet nach Hamburg gekommen? | |
| Ich war in New York im Zentrum von Chabad Lubawitsch tätig und wollte ein | |
| Chabad-Zentrum gründen. Der Bürochef sagte, dein Großvater ist in Hamburg | |
| geboren, also gehst du dorthin. Das war für mich in Ordnung. | |
| Ihr Großvater ist vor den Nazis geflohen. | |
| Ja. | |
| Fällt es Ihnen schwer, hier zu sein? | |
| Manchmal, wenn ich an die Shoah denke und mir vorstelle, dass sie von hier | |
| ausging, ist das ein schweres Gefühl. | |
| Auch Trauer? | |
| Nicht direkt. Aber manchmal denke ich, die Menschen da draußen könnten auch | |
| so sein: einerseits freundliche Nachbarn und andererseits fähig zur Shoah. | |
| Dabei glaube ich gar nicht, dass es morgen wieder passieren könnte oder | |
| dass die junge Generation schuldig ist. | |
| Wann kommen solche Gedanken? | |
| Wenn ich Stolpersteine sehe oder ein Shoah-Überlebender zu Besuch kommt. | |
| Aber im Alltag ist Hamburg für mich eine ganz normale Stadt. | |
| Sie haben keine Bedenken, Rabbiner-Kleidung tragen? | |
| Die hatte ich nie. Vor ein paar Monaten bin ich allerdings auf der Straße | |
| attackiert worden. Ich ging mit einem Freund durchs Viertel, und man warf | |
| einen Schneeball nach uns. Einmal, zweimal, dreimal. Der vierte traf meinen | |
| Kopf, und meine Brille zerbrach. Wir wissen nicht, wer es war. Die Polizei | |
| hat nachgesehen, und ihn jedoch nicht gefunden. | |
| Verzichten Sie seither auf den Hut? | |
| Nein. Ich habe ihn ohnehin nicht immer auf. Aber ich gehe wie früher über | |
| die Straße und habe keine Angst. Ich wollte daraus keine große Geschichte | |
| machen. Das kann ja irgendein Jugendlicher gewesen sein. Das muss nicht | |
| unbedingt System haben. | |
| Sprechen wir über Gleichberechtigung. Warum darf Ihre Frau in der Synagoge | |
| nicht bei den Männern sitzen? | |
| Eine Gegenfrage: Bei der Geburt unseres jüngsten Kindes hat meine Frau sehr | |
| gelitten. Ich konnte nur zusehen. Ist das Gleichberechtigung? | |
| Der Begriff passt hier nicht. | |
| Jedenfalls funktioniert mein Körper anders als der einer Frau. Wir sind | |
| zwei verschiedene Geschöpfe. Natürlich muss es für Männer und Frauen | |
| gerecht zugehen. Aber bei der Frage von Gleichberechtigung in der Synagoge: | |
| Fragen Sie meine Frau, ob sie nicht ein Problem hat, wenn sie oben sitzt. | |
| Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt keine Gleichberechtigung im Judentum: | |
| Frauen sind von vielen Geboten befreit. Ich will auch befreit sein. | |
| Wovon zum Beispiel? | |
| Vom Beten. Ich muss den Riemen anlegen, Frauen nicht. Das ist eine | |
| Ungleichberechtigung zugunsten der Frauen. Ist das eine Kompensation für | |
| das Leiden beim Gebären? | |
| Sie haben sieben Kinder. Was tun Sie, falls die irgendwann konvertieren | |
| wollen? | |
| Ich hoffe, dass ich rechtzeitig bemerke, wenn sich der Weg meiner Kinder | |
| ändert. Damit ich ihnen helfen kann, weiter zu wachsen in der Art, wie wir | |
| glauben. | |
| Und wenn sich Ihr Sohn mit 18 vom orthodoxen Judentum lossagt? | |
| Wenn er 18 ist und gehen will, kann ich ihn nicht hindern. | |
| 10 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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