# taz.de -- Englisch für Aussteiger: Die Sprache der Ungläubigen | |
> Ein US-amerikanischer Jude schneidet sich die Schläfenlocken ab. Nun will | |
> er andere Ultraorthodoxe aus der Isolation befreien. | |
Bild: Junger ultraorthodoxer Jude vor einem Graffiti in New York. | |
Wann immer er Amerikaner trifft, fürchtet Zeevic Hersh sich vor einer | |
simplen Frage: Woher kommst du? Sie fragen immer, natürlich, sein Akzent | |
verrät, dass er kein Muttersprachler ist, und manchmal findet er nicht das | |
passende Wort. Was soll er antworten? Dass er Amerikaner ist wie sie? Diese | |
Antwort zöge nur neue Fragen nach sich, Fragen, die in die tiefe | |
Bruchstelle seiner Biografie zielen. Nichts, was der 32-Jährige Fremden | |
erzählen möchte. | |
Denn Zeevic Hershs Leben ist gespalten in zwei radikal unterschiedliche | |
Teile. In seinem ersten Leben als ultraorthodoxer Jude war Englisch die | |
Sprache der Anderen, der Ungläubigen. Nun, in seinem zweiten Leben, will | |
Hersh die englische Sprache in die Reihen der Strenggläubigen tragen. Sie | |
soll die verbale Barriere einreißen, die die Orthodoxen selbst errichtet | |
haben, um fremde Einflüsse auszusperren. | |
Hersh kennt beide Welten. Als neuntes von 13 Geschwistern wuchs er in einem | |
Dorf im US-Staat New York auf, die Eltern gehörten einer besonders strengen | |
ultraorthodoxen Gemeinde an. Um ihre Söhne vor der Mehrheitsgesellschaft | |
abzuschotten, fanden sie ein effektives Mittel: Obwohl sie selbst mit | |
Englisch aufgewachsen waren, sprachen sie mit den Jungen Jiddisch, die alte | |
Sprache europäischer Juden, die heute noch von Strenggläubigen genutzt | |
wird. | |
Kino, Reisen, Restaurants, nichts davon gab es in Hershs Kindheit, und er | |
vermisste nichts; er kannte nichts anderes. Und selbst wenn ihn die Neugier | |
getrieben hätte, heimlich einen Film zu sehen oder mit den nichtjüdischen | |
Nachbarskindern zu spielen – ihm hätten die Worte gefehlt. | |
Die Geschwister besuchten jüdisch-orthodoxe Schulen, nach Geschlechtern | |
getrennt. Die jüdisch-orthodoxe Tradition verpflichtet die Männer zum | |
Religionsstudium, während die Frauen sich um Kinder und Haushalt kümmern. | |
Anders als die Jungen wurden Hershs Schwestern deshalb auch in säkularen | |
Fächern unterrichtet – und sie lernten Englisch. Für die Brüder kein Grund | |
zu Neid. „Im Gegenteil“, sagt Hersh. „Wir glaubten, wir sind etwas | |
Besonderes, auserwählt zum Thora-Studium.“ | |
## Umzug nach Israel | |
Mit 19 heiratete er ein Mädchen aus England. Wie in der Gemeinde üblich, | |
brachte ein professioneller Vermittler die beiden zusammen, ein einziges | |
Treffen, dann musste Hersh wählen: ja oder nein? Der Druck war groß, mit 19 | |
galt er schon als alt. „Ich war ein Kind“, sagt er heute, „ich wollte | |
heiraten, weil alle meine Freunde es taten.“ Er lacht, ein wenig hilflos; | |
es fällt ihm schwer, diese Welt zu erklären, die einmal die seine war. | |
Das Paar zog nach Israel, in ein orthodoxes Viertel in Jerusalem. Hershs | |
Alltag bestand aus Gebet und Thora-Studium. Er war ehrgeizig: Setzten die | |
anderen sich zum Plaudern zusammen, vergrub er sich in seinen Büchern. Und | |
trotzdem spürte er bei allem, was er tat, eine dumpfe Traurigkeit in sich. | |
„Ich dachte, vielleicht mache ich es nicht hundertprozentig richtig.“ Er | |
studierte noch verbissener. Es half nicht. | |
Wann beschloss er, mit allem zu brechen? Das wird Hersh oft gefragt. Aber | |
er findet in seiner Erinnerung keinen konkreten Moment. „Ich hatte immer | |
Zweifel. Aber wenn man in der Gemeinde bleiben will, kann man mit niemandem | |
darüber sprechen.“ Viele Aussteiger werden von ihren Familien verstoßen. | |
Man muss sehr mutig sein, um diesen Schritt zu wagen. Oder sehr | |
verzweifelt. | |
Es war seine Frau, die den entscheidenden Stoß gab. Inzwischen hatte sie | |
einen Sohn und eine Tochter geboren. Doch die Ehe lief nicht gut, immer | |
giftiger wurden die Zankereien, bis Hershs Frau ihn schließlich bat, für | |
einige Wochen auszuziehen. Hersh, inzwischen 24, packte seinen Koffer und | |
schlug die Tür hinter sich zu, die Tür zu seinem Haus und zugleich zu | |
allem, was bis dahin sein Leben ausgemacht hatte: die Gemeinde, das | |
Thora-Studium, die Frau, die Kinder. Eine Entscheidung von Sekunden, sagt | |
er. Hätte er gegrübelt, er hätte es vielleicht nicht gewagt. | |
## Sozialer Druck | |
Plötzlich stand er vor dem Nichts. Er wandte sich an die Organisation | |
Hillel, die Aussteigern hilft, ein neues Leben aufzubauen. Hillel besorgte | |
ihm ein Zimmer, brachte ihn mit anderen Aussteigern zusammen, lud ihn zu | |
Ausflügen ein. Bald hörte er auf zu beten, weil er begriff, dass sozialer | |
Druck ihn dazu getrieben hatte, kein echter Glaube. Er schnitt die | |
Schläfenlocken ab. „Es war eine Erleichterung. Ich war“ – er stockt. Dann | |
verfällt er in seine Muttersprache, sagt auf Jiddisch, das dem Deutschen so | |
nahe ist: „glicklich“. | |
Als Hersh seine Familie in New York anrief, um ihnen von seiner | |
Entscheidung zu berichten, da weinte der Vater, verzweifelt und | |
hemmungslos, beinahe, als sei der Sohn gestorben. „Papa, ich lebe noch“, | |
sagte Hersh, immer wieder. | |
Nun wollte er werden, was er „einen richtigen Israeli“ nennt. Und dazu | |
gehört die englische Sprache: Israelis reisen viel, amerikanische Popkultur | |
ist allgegenwärtig, das moderne Hebräisch hat viele Begriffe aus dem | |
Englischen übernommen. Hersh nahm Unterricht, kaufte Bücher, suchte die | |
Nähe von Amerikanern. | |
## Eine neue Welt | |
Die neue Sprache eröffnete ihm eine neue Welt: Filme, Musik, Nachrichten, | |
er konnte jetzt sprechen mit Menschen aus aller Welt, war nicht mehr | |
ausgeschlossen. Es war die Sprache, sagt er, die, vielleicht mehr als alles | |
andere, den Grund legte für sein zweites Leben. | |
Vor zwei Jahren dann fasste er einen Entschluss: Er wollte anderen | |
Ultraorthodoxen die Türen öffnen zu dieser Welt, sie befreien aus der | |
Isolation, die ihn selbst so lange gefangen gehalten hatte. Doch die | |
Strenggläubigen können nicht einfach Kurse nehmen: Jede Minute ihres Tages | |
ist verplant, der Wunsch, Englisch zu lernen, könnte das Misstrauen der | |
Gemeinde wecken, und die meisten haben keinen Internetzugang. | |
Telefone aber nutzen sie. Und so entwickelte Hersh die Idee: ein | |
Englischprogramm fürs Telefon, mit dem die Kunden, wenn nötig, heimlich | |
lernen können. Für ein monatliches Abonnement erhalten sie Unterricht per | |
Telefon, dazu gibt es ein Übungsheft. Die meisten der Lektionen bestehen | |
aus Aufnahmen von Dialogen, die sich beliebig oft per Telefon abspielen | |
lassen. Regelmäßig rufen echte Lehrer an und fragen das Gelernte ab. | |
## Unkoscheres Produkt | |
Das Schreiben der Dialoge war eine Herausforderung: Einerseits durfte | |
nichts vorkommen, was Ultraorthodoxen fremd ist, Restaurantbesuche etwa; | |
andererseits wollte Hersh explizit jüdischen Kontext vermeiden, weil er | |
hofft, das Programm später in andere Länder zu verkaufen. Die Übungsdialoge | |
spielen deshalb vor allem im Haus, in Läden oder in der Schule; die | |
Protagonisten tragen neutrale Namen wie Jim oder Laura. | |
Sobald das Konzept stand, nahm Hersh einen Kredit auf, heuerte | |
Programmierer und Englischlehrer an. Das Programm nannte er „Adabra“: Eine | |
Mischung aus „Edaber“, „Ich werde sprechen“ auf Hebräisch, und | |
„Abrakadabra“, das Zauberwort. | |
## | |
Gerade ist das Programm in der Testphase, Hersh hat erst ein paar Dutzend | |
Kunden, hauptsächlich Bekannte, darunter ein aktiver Ultraorthodoxer. Er | |
will es optimieren, bevor er mit dem großflächigen Verkauf beginnt. | |
Kürzlich versuchte er, eine Anzeige in einer orthodoxen Zeitung zu | |
schalten, doch die wurde ihm verweigert: Nur Produkte, die ein Rabbiner als | |
„koscher“ deklariert, dürfen beworben werden. | |
## „Auch schlechte PR ist PR“ | |
Hersh macht sich keine Hoffnungen auf ein solches Zertifikat. Eher erwartet | |
er Anfeindungen von jenen, die die Isolation der Gemeinde in Gefahr wähnen. | |
Aber, sagt er mit einem Lächeln, „auch schlechte PR ist PR“. | |
Mit seinem alten Leben hat er sich versöhnt. Zu den Eltern hat er Kontakt, | |
er sagt, er hege keinen Groll. Seine Exfrau ist zurück nach England | |
gezogen, manchmal telefoniert er mit den Kindern. Beide besuchen orthodoxe | |
Schulen. Die Tochter lernt weltlichen Stoff, sie ist aufgeweckt und | |
lebenstüchtig, Hersh ist sicher, sie wird zurechtkommen. Der Sohn aber | |
bekommt eine religiöse Ausbildung, genau wie einst er selbst. | |
Besorgt ihn das nicht? Hersh zögert. „Nein“, sagt er dann. „Mein Sohn hat | |
Englisch von seiner Mutter gelernt, anders als ich. Falls er später | |
ausbrechen möchte, hat er den Schlüssel dazu.“ | |
24 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Mareike Enghusen | |
## TAGS | |
englisch | |
Sprachkurse | |
Ultraorthodoxe | |
Juden | |
Orthodoxe Juden | |
Schimon Peres | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Shlomo Bistritzky über orthodoxes Judentum: "Mir kommt der Glaube an Gott plau… | |
Rabbi Shlomo Bistritzky, der in Hamburg die konservativen Lubawitscher | |
Juden vertritt, plädiert dafür, die Gesetze der Tora genau zu befolgen. | |
Alles andere sei eine Gefahr für das Judentum. | |
Streisand in Israel: Mahnungen vor Freunden | |
Barbra Streisand sang zum 90. Geburtstag von Präsident Shimon Perez. Danach | |
kritisierte sie entwürdigende Momente der israelischen Gesellschaft. |