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# taz.de -- Polizeigewalt in Berlin: „Texanische Verhältnisse“
> Im Oktober 2012 stirbt André Conrad durch Polizeikugeln. Handelten die
> Beamten unverhältnismäßig? Anwalt Hubert Dreyling glaubt: ja.
Bild: Keine Gewalt! Berliner Polizei im Einsatz.
BERLIN taz | Zum Kaffee waren sie verabredet, Brunhilde Conrad wartete den
ganzen Nachmittag auf ihren Sohn. „Aber André kam nicht“, erinnert sich die
79-Jährige. Stattdessen stand abends die Kriminalpolizei vor ihrer Haustür.
Da lag André Conrad schon im künstlichen Koma, nach einer Notoperation. Ein
paar Tage später würde er sterben, an den Folgen eines Polizeieinsatzes.
„Mein lieber André“, sagt Brunhilde Conrad in ihrem mit Erinnerungsfotos
ausstaffierten Wohnzimmer und fängt an zu weinen. Es fällt ihr schwer, über
seinen Tod zu sprechen. Die Bisswunden vom Polizeihund, die vom
Pfefferspray verklebten Augen: „Er sah schlimm aus.“
Es ist der 6. Oktober 2012, als André Conrad mit einem Küchenmesser und
einer Bierflasche in der Hand durch Berlin-Wedding irrt. Anwohner rufen die
Polizei. Die stoppt den alkoholisierten 50-Jährigen in der Antwerpener
Straße auf eine Weise, die bis heute, gelinde gesagt, umstritten ist.
Passanten nehmen den rabiaten Einsatz mit dem Handy auf. „Den mache ich
fertig“, soll einer der Beamten gesagt haben.
Zehn Schüsse geben Polizeiobermeisterin S. und Polizeihauptmeister L. ab,
sechs Kugeln treffen André Conrad in Bauch und Beine. Mit Durchschüssen und
Schenkelbrüchen geht er zu Boden, stark blutend. Verstärkung trifft ein,
und weil Conrad André sein Messer nicht loslässt, setzt es Tritte und Hiebe
mit dem Schlagstock. Außerdem sprühen ihm die Beamten Pfefferspray in die
Augen und hetzen einen Diensthund auf ihn. Zwei Wochen später erliegt der
„Messermann“, wie ihn die Boulevardpresse nennt, im Krankenhaus seinen
Verletzungen.
## „Texanische Verhältnisse“
„Ich bin hell empört“, sagt Hubert Dreyling. Der Anwalt gerät schnell in
Rage, aber der Fall André Conrad regt den 67-Jährigen besonders auf.
„Texanische Verhältnisse“ seien das, schimpft Dreyling. Polizeibeamte
spielten sich als „Herren über Leben und Tod“ auf. Man merkt schnell: Der
Strafverteidiger ist kein großer Freund der deutschen Polizei.
Hubert Dreyling ist ein bekannter Anwalt, über 500 Schwurgerichtsverfahren
hat er begleitet, darunter den ersten Mauerschützenprozess und das
Verfahren gegen Ex-Stasi-Minister Erich Mielke. Jetzt vertritt Dreyling
Brunhilde Conrad. Im Fall ihres Sohnes André hat er bei der
Staatsanwaltschaft beantragt, wegen „vollendeten Totschlags“ Anklage gegen
die Polizeibeamten S. und L. zu erheben.
Der Strafverteidiger sammelt Kunstwerke, seine Kanzlei in der Keithstraße
hängt voller Bilder. Brunhilde Conrad engagierte Dreyling auf Empfehlung
eines Bekannten. Der musste sich erst einmal einarbeiten in das heikle
Thema. Mittendrin gab es den nächsten Vorfall, am Neptunbrunnen am Berliner
Alexanderplatz. Und der regt Dreyling noch ein bisschen mehr auf.
## Ohne Warnschuss
Im Neptunbrunnen steht am 28. Juni 2013 plötzlich ein verwirrter nackter
Mann im Becken und verletzt sich selbst mit einem Sägemesser. Die Polizei
eilt herbei, umzingelt den Mann, der, wie sich herausstellen wird, unter
Drogen steht. Als dieser den Polizeimeister F. mit seinem Messer bedroht,
schießt F. ihm ohne Warnschuss in die Brust. Der Mann stirbt noch am
Tatort.
Auch dieser Einsatz wird von Augenzeugen gefilmt und im Internet
verbreitet. Manche sehen darin eine notwendige Selbstverteidigung, andere
die vermeidbare Exekution eines Hilflosen. „Es gab empörte Bürger, die
Strafanzeige wegen Mordes stellten“, sagt Dreyling. Wenig später übernahm
er auch den Fall. Dreyling will jetzt auch den Beamten F. vor Gericht
bringen, den Todesschützen vom Neptunbrunnen.
Der Jurist sieht in den zwei Fällen in Wedding und am Neptunbrunnen eine
Parallele: Beide Männer seien „psychisch angeknackst“ und „nicht
schuldfähig“ gewesen. Und sie hätten niemanden ernsthaft bedroht. „Es gab
keine akute Gefahr“, sagt Dreyling – bis die Polizei eintraf.
## Die Polizei bleibt stumm
Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Im Fall Neptunbrunnen stellte sie
die Ermittlungen gegen den Beamten F. am 23. August ein. Der Beamte habe
auf den nackten Mann aus „Notwehr“ geschossen, heißt es. Der Einsatz sei
„völlig unverhältnismäßig“ gewesen, sagt dagegen Anwalt Dreyling, der d…
Vater des Getöteten vertritt. Der bedrohte Beamte hätte den Brunnen ohne
Weiteres durch ein paar Schritte rückwärts verlassen können. „Was er ja
auch tat, nachdem er den Mann erschossen hatte, wie das aufgenommene Video
eindeutig zeigt.“
Im Fall André Conrad laufen die Ermittlungen noch. Der Fall sei „ziemlich
kompliziert“, sagt Martin Steltner, Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft.
Zu den Inhalten der Ermittlungen äußert er sich nicht, auch die Polizei
bleibt seit Monaten stumm.
Einer der wenigen Insider, die reden, ist Joachim Kersten. Der Professor an
der deutschen Polizeihochschule in Münster beklagt schon länger die
mangelnde „Fehlerkultur“ bei der deutschen Polizei. Nach Gewaltvorfällen
werde reflexhaft das „Unfehlbarkeitsdogma“ hochgehalten, sagt Kersten. „D…
Staatsanwaltschaft ermittelt noch, aber Polizeipräsidenten und sogar
Innenminister posaunen fragwürdige Unschuldsbehauptungen wie Notwehr
hinaus“, auch wenn Gerichtsgutachten später zu gegenteiligen Urteilen
kämen.
## Der Fall Teresa Z.
Als Beispiel nennt Kersten den Fall Teresa Z. Wegen eines Streits mit ihrem
Freund hatte die Münchner Studentin im Januar 2013 die Polizei zu Hilfe
gerufen. Wenig später fand sie sich in einer Haftzelle wieder, wo ihr ein
Beamter das Nasenbein brach, obwohl sie fixiert war. Vor Gericht gab der
Beamte an, er habe aus Notwehr gehandelt. Münchens Polizeipräsident hatte
sich diese Version schon vor Abschluss interner Ermittlungen zu eigen
gemacht. Dieser „Korpsgeist“ sei ein Problem, sagt Soziologe Kersten. „Wer
Kritik nur äußern, sie selbst nicht ertragen kann, versagt als Vorbild.“
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beklagt schon länger,
dass es Fälle „rechtswidriger Polizeigewalt“ in Deutschland gebe. Tödlich
enden Polizeieinsätze jedoch relativ selten. In Berlin wurden seit 2008
sechs Menschen mit Schüssen aus Polizeiwaffen getötet, wie Innensenator
Frank Henkel (CDU) nun auf eine Anfrage der Grünen antwortete. Zwölf
weitere Menschen erlitten danach Verletzungen.
Als André Conrad am 19. Oktober 2012 in einem Berliner Krankenhaus stirbt,
bekommt seine Mutter einen Anruf von der Polizei. Man bedauere den
„Zwischenfall“, erklärt man der 79-Jährigen. „Ich habe dann gesagt, das…
damit nicht abgetan ist, und den Hörer aufgelegt“, erinnert sie sich. Zur
Beerdigung kam niemand von der Polizei und auch kein Politiker.
## Angeblich Notwehr
Ob der Fall Conrad je vor Gericht kommt, ist unklar. „Vorrangige
Haftsachen“ hätten Priorität, sagt Martin Steltner von der
Generalstaatsanwaltschaft. Seit einem Jahr wird nun gegen zwei Beamte wegen
Verdachts des versuchten Totschlags ermittelt. „Wir machen uns das nicht
leicht“, sagt Steltner.
Anwalt Dreyling kennt die Ermittlungsakten. Die Polizei argumentiere, aus
Notwehr gehandelt zu haben. Wenn man sich das Video der Passanten anschaut,
fällt es schwer, an Notwehr zu glauben. Darauf ist André Conrad zu sehen,
wie er mit blutenden Schusswunden auf der Antwerpener Straße liegt. Auch am
Boden fuchtelt er noch eine Weile mit seinem Messer. Doch rechtfertigt
dies, brutal auf ihn einzuprügeln? Hätten die Beamten überhaupt schießen
müssen? Der Mann sei verwirrt gewesen, betrunken herumgewankt, sagt
Dreyling. „Da kann ein Polizist Abstand halten und muss nicht zehn Schüsse
abfeuern.“
## Aus der Bahn geworfen
Der 50-jährige André Conrad war gelernter Maler, in Mecklenburg verwaltete
er das Mietshaus der Eltern. Doch dann starben kurz hintereinander sein
18-jähriger Sohn und sein Vater Joachim. Der doppelte Verlust warf André
Conrad wohl aus der Bahn. Als er am 6. Oktober durch Wedding irrt, bat er
zunächst einen Kioskverkäufer, ihn zu erschießen. „Er ist durchgedreht,
hätte psychologische Hilfe gebraucht“, sagt seine Mutter. Kurz darauf
fliegen tatsächlich Kugeln, aus zwei Polizeiwaffen. Die Schüsse der Beamten
S. und L. sind im ganzen Kiez zu hören.
„Das war wie eine Hinrichtung“, sagte eine Augenzeugin später. Laut Anwalt
Dreyling fand diese Zeugenaussage keine Erwähnung in den polizeilichen
Ermittlungsakten. Einer mit dem Fall betrauten Staatsanwältin soll das
Verfahren entzogen worden sein, weil sie den Behörden nicht genehm war.
Im Fall des tödlichen Polizeieinsatzes am Neptunbrunnen hat Dreyling
Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens eingelegt. Sollte die
Staatsanwaltschaft auch die Ermittlungen im Fall André Conrad einstellen,
will der Anwalt Klageerzwingungsverfahren erwirken, notfalls
Verfassungsbeschwerde einlegen.
3 Oct 2013
## AUTOREN
Haiko Prengel
## TAGS
Neptunbrunnen
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Polizei Berlin
Psychische Erkrankungen
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