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# taz.de -- Die Wahrheit: Letzte Mandel lechzt
> Vier geschlagene Jahre lang hatte es trotz wöchentlicher Runden keine
> Einigung auf Schwarz-Rot gegeben. Der große Koalitionsmarathon hat
> Folgen.
Bild: Mutti macht irgendwas mit Schwarz-Rot – irgendwann mal, vielleicht ...
Wir nähern uns dem Septemberende im Jahre 2017. Zwei Tage sind es noch bis
zur Bundestagswahl. Das Volk sieht ihr mit bangem Blick entgegen. Vier
Zeilen des Berliner Dichters Gottfried Benn treffen die Lage noch
gefühliger: Vorletzter Tag des neunten Monats schon! / Stoppel und letzte
Mandel lechzt in uns. / Enthaltungen, das Blut, die Müdigkeiten, / Die
Georginennähe macht uns wirr.
Zum vielleicht letzten Mal kamen am Tag zuvor die Vertreter von CDU/CSU und
SPD zu Koalitionsverhandlungen zusammen – es war das insgesamt 199. Treffen
seiner Art. Vier geschlagene Jahre lang hatte es trotz wöchentlicher Runden
keine Einigung auf Schwarz-Rot gegeben.
Beim Thema Betreuungsgeld waren die Kinder der Familien, denen es gegolten
hätte, mittlerweile längst in der Schule. Die Erhebung einer Fremdenmaut
hatte sich durch den Einsturz unzähliger Autobahnbrücken und den Krümelfraß
im Altbeton erledigt. Beim Mindestlohn lag man zuletzt bei 8,49 Euro, aber
den ultimativen Schritt in Richtung 8,50 wollte die CDU nicht wagen.
Umso bewundernswerter war all die Jahre die Leistung des politischen
Rest-Berlins. Die Regierungsblockade hatte dazu geführt, dass nur noch die
alten FDP-Minister die Geschäfte weiterführten. Zwar hatten sie sich nach
der Niederlage 2013 alle fünf um neue Jobs beworben und auch bekommen,
dennoch hielten sie nach Feierabend die Fahne ihres Zweitjobs hoch. Dabei
hatten sie noch jeweils zwei Ressorts zusätzlich mitzubetreuen – und das
ganz ohne Betreuungsgeld! So sah man Außen- und Landwirtschaftsminister
Westerwelle des Öfteren in Gummistiefeln Auslandsreisen antreten.
## „Harter Hund vom Leineufer“
Die Unionskollegen einschließlich der sogenannten Kanzlerin waren infolge
der ständigen Koalitionsverhandlungen dagegen dauerhaft unabkömmlich und zu
keinen Unterschriften in der Lage. Philipp Rösler nahm seine Rolle als
Vizekanzler mit aller Schärfe wahr, die ihm auch international die Rolle
des „harten Hunds vom Leineufer“ eintrug. Er war mittlerweile zum
dienstältesten westlichen Staatsführer gereift – und das wie König Johann
Ohneland ohne plebiszitäre Basis. Innenpolitisch brachte ihm vor allem die
Umbenennung der „Netto“-Läden in „Brutto“-Filialen Respekt ein.
Interessant war außerdem, dass sich die parlamentarische Arbeit trotz aller
Hindernisse fruchtbar gestalten ließ. Bei den Plenarsitzungen waren zwar
nur die beiden Oppositionsparteien anwesend, die aber verstanden sich
prächtig. Wechselseitig nahmen sie mal die Rolle der Regierung, mal die der
Opposition ein und waren dabei meist derselben Meinung! Das kam gut an beim
Wahlvolk. Die Zahl der Bundestagsbesucher schoss auch an sitzungslosen
Tagen so steil nach oben, dass man viele unten im Plenarsaal unterbringen
musste.
Für Gesetze freilich war die Zahl der Abgeordneten zu klein. Das machte
aber nichts, weil die Rumpfregierung sie sowieso nicht umgesetzt hätte. So
durfte die Bundesrepublik eine ausgedehnte Ruhepause einlegen, ohne von
neuen Gesetzen gestört zu werden. Das „Prinzip Merkel“ war somit ohne ihr
Zutun perfektioniert worden.
## Ulrich Deppendorf verschollen
Ab und zu liefen sich Politiker der Möchtegernkoalitionäre und der
Restregierung über den Weg. Die Interessenschnittmengen zwischen ihnen
blieben indes gering. Die meisten der Unions- und SPD-Politiker wohnten
mittlerweile im Gebäude der Parlamentarischen Gesellschaft, um es beim
morgendlichen Dienstweg nicht zu weit zu haben. Was im Land geschah,
erfuhren sie nicht mehr.
Gaben sie anfangs noch vorsichtige bis nichtssagende Stellungnahmen ab, so
verschwand im Laufe der Jahre jegliches Interesse am Stand der
Koalitionsverhandlungen. Ulrich Deppendorf blieb seit Mitte 2015 nach einem
letzten Interview verschollen, Thomas Walde vom ZDF endete im Pfandhaus.
Übrig geblieben ist von der medialen Anteilnahme nur die täglich
verhandelte Höhe des Mindestlohns. Sie wird allabendlich nach DAX und
Eurokurs in den Nachrichten eingeblendet.
Oft wurde in den vier zurückliegenden Jahren auf den Bundespräsidenten
geschaut. Aber seitdem der eine Lücke in der Bundespräsidialgesetzgebung
entdeckt hatte, die es ihm ermöglicht, die Bundesrepublik auch durch seine
Amtsvorgänger vertreten zu lassen, war seine Arbeitsmoral dahin. Manchmal
schwärmten Wulff und Köhler – und sogar der greise Walter Scheel! –
parallel zu Staatsbesuchen aus, während der Apostel der Freiheit sich just
diese nahm und der Gewaltenteilung einen inneren Arschtritt verpasste.
Diese seligen Zustände werden nach dem kommenden Sonntag vorbei sein. Dann
wird ein neuer Bundestag zusammentreten, nachdem der vorige nicht wollte.
Wahlkampf fand allerdings kaum statt. Manche meinen sogar, weder Union noch
SPD hätten überhaupt registriert, dass die vier Jahre um sind.
Ersatzkanzler Rösler kann es nur recht sein: Die FDP darf nämlich auf die
absolute Mehrheit hoffen. Sollten SPD und CDU/CSU aber doch wieder zusammen
auf über 50 Prozent kommen, bleibt er sowieso im Amt.
21 Oct 2013
## AUTOREN
Reinhard Umbach
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Schwerpunkt Angela Merkel
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