| # taz.de -- Indie-Rockband Arcade Fire: Die Leichtigkeit des Himmels | |
| > Die Band Arcade Fire sagt mit „Reflektor“: Tschüss, simpler Rocksong, | |
| > hallo Globalklang. Die wohl erfolgreichste Indie-Band versucht es mit | |
| > funky Disco. | |
| Bild: Albumcover. „Oh Orpheus, Euridyce / It’s over too soon.“ | |
| Was würden Eurydike und Orpheus wohl heute so treiben? Wäre er | |
| Dubstep-Produzent oder angesagter House-DJ, der mit Sangeskunst versucht, | |
| Frauen aufzureißen? Und wäre sie nicht eher im verdrogten Underground als | |
| in der Unterwelt des Hades gefangen? Jedenfalls zieren beide – Eurydike mit | |
| entrücktem Gesichtsausdruck, Orpheus die Hände vor Augen haltend – das | |
| Cover von „Reflektor“. | |
| So heißt das neue Doppelalbum der kanadischen Indie-Rockband Arcade Fire, | |
| die für das Vorgängerwerk, ein Konzeptalbum namens „The Suburbs“, 2011 | |
| einen Grammy bekam. Allmählich begann das virale Marketing der vergangenen | |
| Monate zu nerven – sollte alles doch nur ein Hoax sein? –, aber nun kann | |
| man sich der Musik ergeben. Und in diesen 77 Minuten „Reflektor“ bewegt | |
| sich die sechsköpfige Band eben irgendwo zwischen dem Narrativ von antiken | |
| Epen und amtlichem Club-Sound, der auf Congas trifft – ein weites | |
| künstlerisches Feld also. | |
| Kurz lässt sich „Reflektor“ vielleicht so zusammenfassen: Die wohl | |
| erfolgreichste Indie-Band der Welt um Sänger Win Butler und | |
| Multiinstrumentalistin Régine Chassagne (die auch verheiratet sind) | |
| orientiert sich in Richtung funky Disco. Tschüss, simpler Rocksong, hallo | |
| Globalklang. Zu hören sind vertrackte Beats, tiefe Bässe, auch Reggae und | |
| Rumba finden wie selbstverständlich statt. Insgesamt ist das Album | |
| rhythmischer, spielerischer, verfrickelter. Und doch bleibt das Hymnenhafte | |
| nicht auf der Strecke. | |
| Der Versuch, neue Wege einzuschlagen, ist dabei allzu nachvollziehbar. | |
| Arcade Fire haben mit „Funeral“ (2004), „Neon Bible“(2007) und „The | |
| Suburbs“ (2010) drei großartige Rockalben aufgenommen – vor allem Letzteres | |
| ist als Konzeptalbum über die suburbane Adoleszenz schwerlich zu toppen. | |
| Die Frage ist deshalb: Verkommt „Reflektor“ nun zum Experiment oder kann es | |
| wieder neue Maßstäbe definieren? | |
| Das vorab veröffentlichte Titelstück, ein knackiges Dancefloor-Stück, | |
| vertagte die Antwort. Je öfter man es aber hört, desto mehr wächst es. Hier | |
| taucht ein Saxofon auf, da ein dezentes Klaviersolo, sogar David Bowie | |
| treibt sich als Backgroundsänger rum. Bei den Anfangsakkorden geht | |
| „Reflektor“ einen Wimpernschlag lang zurück zum Auftaktsong ihres | |
| Debütalbums – eines der zahlreichen schicken Details, die einem nach | |
| mehrmaligem Hören auffallen. Insgesamt hätte man den Flow, den das Stück | |
| dann entwickelt, vielleicht eher von Bands wie Animal Collective oder Hot | |
| Chip erwartet. Butler singt: „Just a reflection of a reflection of a | |
| reflection / But I see you on the other side / We all got things to hide.“ | |
| Im Video, das Anton Corbijn gedreht hat, wird das Narziss-Motiv verhandelt | |
| – Butler und Band sehen sich von Spiegelkugeln umgeben und blicken in das | |
| spiegelnde Wasser eines Sees. Kollektive Psychoanalyse unter der | |
| Discokugel. | |
| Bei „We Exist“, das mit einem Basslauf wie Billie Jean und Chris | |
| Isaak-Feeling anläuft, kommt man zwar ins Straucheln. Was soll das | |
| darstellen? Disco für Softpornos? Doch spätestens bei „Here comes the night | |
| time“, dem vierten Song, läuft die Band aus Montreal zu großer Form auf, | |
| trifft die alte Indie-Oper, wie von Arcade Fire gewohnt, auf nervöses, | |
| congatrommelngetriebenes Zucken, dazu lärmen lang gezogene Beats im | |
| Hintergrund. | |
| Der Grund für den detailreichen Dancefloor-Sound, der auch weitere Stücke | |
| prägt, trägt den Namen James Murphy. Der Gründer der New Yorker | |
| Discopunkband LCD Soundsystem und Betreiber des DFA-Labels fungierte für | |
| „Reflektor“ als Produzent und Beatdesigner. Murphys Handschrift klingt bei | |
| allen 13 Stücken durch – aber nie hört es sich an, als sei „Reflektor“ … | |
| reines Produzentenalbum. Eher klingt es nach einer gelungenen | |
| Kollaboration, als seien Arcade Fire kopfüber in die Welt der Londoner und | |
| New Yorker Dancefloor-Clubs eingetaucht. | |
| An den Aufnahmesessions waren auch zwei Drummer beteiligt, die Butler und | |
| Chassagne bei einem Aufenthalt in Haiti kennenlernten. Der als Geigen- und | |
| Klavier-Loop-Meister bekannt gewordene Musiker Owen Pallett war für die | |
| Orchestrierung zuständig. Nicht zu vergessen David Bowie. Es habe sich | |
| bisweilen wie eine Motown-Session angefühlt, sagte Will Butler, Bruder von | |
| Sänger Win und weiterer Multiinstrumentalist der Band. | |
| ## Mehr Leichtigkeit | |
| Bisher waren Arcade Fire eher für barocke Schwere und Pathos bekannt – nun | |
| zeigen sie, wie es klingt, wenn bei ihnen die Leichtigkeit obsiegt. Sie | |
| spricht aus den Zeilen in „Here comes the night time“: „And when they hear | |
| the beat / Coming from the street / They lock the door / But if there’s no | |
| music up in heaven / Then what’s it for?“ Textlich ist noch einiges von der | |
| Atmosphäre auf „The Suburbs“ übrig geblieben. In allen 13 Songs lässt si… | |
| eine ordentliche Portion adoleszente Weltverneinung ausmachen. Nur, diesmal | |
| klingt sie vorsichtig optimistisch: „Can we just work it out? / Scream and | |
| shout / Til we work it out“, heißt es in „Afterlife“. | |
| Musikalisch neigt „Reflektor“ zu Ausschweifung und Exkurs: In „You already | |
| know“ klingt etwa Fünfziger-Jahre-Rock-’n’-Roll an. Aber Arcade Fire | |
| kriegen immer die Kurve zurück – das Album bleibt mehr als die Summe der | |
| einzelnen Teile. James Murphy vollführt mit Loops und digitalem Geschwader | |
| immer wieder die Kehrtwende zum Grundthema aus dem titelgebenden | |
| „Reflektor“. Im zweiten Teil von „Here comes the night time“ wird eine | |
| Variation des ersten Songteils angespielt. Dezente Stadionrock-Überfülle | |
| klingt an. | |
| ## Prince-artige Klänge mit Chor-Gesang | |
| Nicht nur wegen solcher und ähnlicher Anleihen scheint es missverständlich, | |
| dass Arcade Fire nach wie vor als Indie-Band gehandelt werden – man denke | |
| nur an das Marketing-Bohei zu „Reflektor“. In den USA sind sie zwar beim | |
| unabhängigen Label Merge Records unter Vertrag. Dessen | |
| Veröffentlichungspolitik unterscheidet sich aber nur unmerklich vom | |
| Majorlabel Universal, auf dem „Reflektor“ in Europa erscheint. Und Indie | |
| als musikalische Kategorie? Nun, die war ursprünglich auch nicht vom | |
| Streben nach Perfektion und von der Idee eines großen, harmonischen | |
| Klangkosmos geprägt. Dieser aber ist bei „Reflektor“ zu spüren. | |
| Songschreiber Butler ist das Bemühen um Einheit etwa in „Awful Sound (Oh | |
| Eurydice)“ und „It’s never over (Hey Orpheus)“ anzumerken – da kommen | |
| endlich die Coverhelden ins Spiel. Zu Prince-artigen Klängen singt ein | |
| Chor: „Just wait until it’s over / Wait until it’s through“. Manchmal k… | |
| einem der Gedanke, das Ehepaar Butler/Chassagne gäbe selbst eine gute | |
| zeitgenössische Version von Orpheus und Eurydike ab. | |
| Bloß schade, dass die Geschichte ungut endet: „Oh Orpheus, Euridyce / It’s | |
| over too soon“. Daher ist man äußerst froh, dass die Album-Erzählung eine | |
| andere Wendung nimmt. Denn beim Finale „Supersymmetry“ mit seinem | |
| katatonischen Streicherarrangement inklusive Handdrums ahnt man: Das | |
| „Reflective Age“ könnte groß werden. | |
| 1 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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