# taz.de -- Generationenkluft in Vietnam: Abmarsch in die Zukunft | |
> Die Alten in Vietnam glauben noch an den Kommunismus, sagt eine | |
> Studentin. Die jungen Leute denken anders – aber nicht laut. | |
Bild: Die Jugend Vietnams möchte gerne neue Wege gehen – doch offene Rebelli… | |
HANOI taz | Thi Bian Nguyen* lebt einen Traum. Nicht ihren eigenen, sondern | |
den der Kommunistischen Partei Vietnams. Das Politbüro träumt von | |
Fortschritt, Entwicklung und Profit. Deswegen musste die junge Frau nach | |
ihrem Abitur die Universität besuchen, um zu studieren. So wie jeder | |
Abiturient in Vietnam. | |
Bian glaubt schon lange nicht mehr an den Kommunismus. „Es braucht | |
Kapitalismus, um Fortschritt zu erzielen. Ein Konkurrenzsystem, in dem es | |
darum geht, die beste Partei zu sein. Das Beste für die Menschen zu tun“, | |
sagt die 23-Jährige. Öffentlich dafür kämpfen kann sie im politischen Klima | |
Vietnams nicht. Deswegen kämpft sie mit sich selbst. | |
Lange ist es her, dass amerikanische B-52 Hanoi bombardierten. 1975 ging | |
der Krieg zu Ende, 1976 folgte die Wiedervereinigung von Süd- und | |
Nordvietnam; Mitte der 80er Jahre wurden erste marktwirtschaftliche | |
Reformen eingeleitet. Trotzdem ist der Konflikt zwischen Kapitalismus und | |
Kommunismus in Vietnam nach wie vor allgegenwärtig – er findet in den | |
Köpfen der Menschen statt. | |
Die Gesellschaft ist gespalten. Während die Kriegsgeneration immer noch | |
ihren Führern vertraut, verschließen junge Vietnamesen wie Bian nicht | |
länger ihre Augen vor den Problemen des korrupten Staatsapparats. Sie | |
wollen genau das, wogegen so viele Menschen jahrelang gekämpft haben – | |
Kapitalismus. | |
## Der Computer als Fenster zur Welt | |
Der Direktor der Uni hat Bian gerade feierlich ihr Bachelorzertifikat für | |
das Studienfach Englisch überreicht. Sie streift ihr schickes Kleid ab, die | |
hohen Schuhe landen in der Ecke. Jetzt sitzt sie in Jeans und T-Shirt auf | |
dem Bett ihres schlichten Kinderzimmers im Süden Hanois. Eine Matratze auf | |
dem Boden, ein Schreibtisch in der Ecke, Familienfotos an den Wänden. Die | |
Balkontür kann die 23-Jährige nicht aufmachen. Die Eltern verbieten es, es | |
sei zu gefährlich. | |
Bian zuckt mit den Augenbrauen. Sie weiß, wie albern das klingt. Ihr | |
Fenster zur Welt steht auf ihrem Schreibtisch – der Computer. „Die Partei | |
erzählt jedem, dass die Menschen weltweit unter dem Kapitalismus leiden. | |
Aber ich sehe doch, dass die Menschen davon profitieren. Junge Europäer | |
können machen, was sie wollen“, sagt die 23-Jährige in einem drängelnden | |
Ton, als müsse sie ihre Eltern davon überzeugen, dass auch sie diese | |
Freiheit braucht. | |
Ihre Eltern wohnen im dritten Stock. Eine Etage über ihr. In Vietnam ist es | |
üblich, dass die ältere Generation über der jüngeren wohnt. Bian hat | |
Englisch auf Lehramt studiert. „Aber ich will nicht unterrichten. Lieber | |
würde ich für eine NGO arbeiten. Menschen unser Land zeigen, für mehr | |
Verständnis sorgen“, sagt die junge Frau. Sie hat das jedoch nicht zu | |
entscheiden. Ihre Eltern sagen, wo es langgeht. Heiraten und Nachwuchs | |
stehen ganz oben auf der Agenda. | |
## Die Eltern wissen es besser | |
Natürlich würde Bian gern herumreisen, etwas von der Welt sehen. | |
„Andererseits will ich bei meinen Eltern bleiben“, sagt sie. Schön sei es, | |
dass sie sich darauf verlassen kann, dass immer jemand für sie da ist. „Ich | |
würde meinen Eltern niemals widersprechen. Auch wenn sie streng sind, | |
wissen sie ja, was das Beste für mich ist. Sie haben mehr Erfahrungen als | |
ich, das respektiere ich.“ | |
Bian versucht ihre Gefühle zu erklären. „Wir Vietnamesen müssen nicht für | |
uns selbst denken, das machen die Eltern und die Regierung. Deswegen sind | |
ja alle hier so passiv“, sagt sie selbstkritisch und schaut auf den Boden. | |
In Vietnam werden Konflikte nicht offen ausgetragen. Niemand möchte das | |
Gesicht verlieren. „Nur in mir drin kann ich diesen Konflikt austragen.“ | |
Bian balanciert zwischen Tradition und Moderne, zwischen Fügung und | |
Selbstbestimmung. Lange Zeit habe sie zu ihrem Vater aufgeschaut – einem | |
Polizeikommissar. Und dann hat das Internet den kommerziellen Feminismus à | |
la Avril Lavigne bis in ihr Kinderzimmer vermarktet. Skateboardfahren | |
fanden ihre Eltern gefährlich, stattdessen unternahm Bian heimlich mit | |
Freunden Ausflüge in die Umgebung. | |
„Jetzt rennt Avril Lavigne herum wie ein Prinzessin“, sagt Bian enttäuscht | |
von ihrem Idol. Ihre Rebellion hat sie aufgegeben, aber den gleichen Beruf | |
ergreifen wie ihr Vater will sie dennoch nicht. Ihr Kampf ist bis an die | |
elterliche Front nie vorgedrungen. Jetzt postet sie Bilder von | |
Hochzeitskleidern. | |
## Das Traumpaar der 80er | |
Als Generalmajor Pham Ngoc Lan 23 Jahre alt war, hatte er andere Sorgen. | |
Der Krieg gegen die Franzosen und gegen die Amerikaner hat sein Leben | |
geprägt. Auch heute noch trägt der General a. D. seine Uniform, zahlreiche | |
Medaillen schmücken seine Brust. Ho Chi Minh hat dem Piloten, der im | |
Vietnamkrieg das erste amerikanische Flugzeug abschoss, persönlich die | |
Ho-Medaille überreicht. | |
Auch der 79-Jährige kämpft. Nicht gegen sich selbst, sondern gegen einen | |
Feind, den es schon lange nicht mehr gibt. „Solange ich atme, werde ich | |
mein Leben dem Kampf gegen die ausländischen Kräfte widmen, die uns von | |
unserem ganz eigenen Weg abbringen möchten“, sagt er. Die Partei habe sich | |
nur die guten Seiten des Kapitalismus abgeschaut. | |
Um große Worte ist der alte Mann nicht verlegen. Seine Frau sitzt neben | |
ihm. Die beiden waren im wiedervereinten Vietnam ein glamouröses Paar. Der | |
junge Kriegsheld und die attraktive Lehrerin. Davon erzählen beide heute | |
noch gern. Auch der Fotograf, den Pham Ngoc Lan eigens für das Interview | |
herbestellt hat, kommt nicht darum herum, mehrere Fotos nur von dem General | |
und seiner großen Liebe zu machen. | |
Die Zeiten, in denen das Paar für eine perfekte Beziehung Modell gestanden | |
hat, sind jedoch lange vorbei. Bians Generation honoriert eher die Höhen | |
und Tiefen von TV-Soaps als die gediegene Zweisamkeit sogenannter | |
Kriegshelden. Auch die Politiker seien nicht mehr wie früher, klagt Pham | |
Ngoc Lan. „Viele von denen haben ja den Krieg schon gar nicht mehr | |
mitgemacht.“ Ausnahmslos alles, was Pham Ngoc Lan sagt, wird von seinen | |
Freunden und seiner Frau eifrig benickt. „Die meisten sind trotzdem gute | |
Leute, die an die Menschen hier im Land glauben.“ | |
## Der General lacht Tränen | |
Zum Thema Demokratie fällt ihm nur eine Anekdote ein. „Vor ein paar Jahren | |
habe ich auf einer Jubiläumsfeier der vietnamesischen Unabhängigkeit einen | |
amerikanischen Soldaten getroffen“, erzählt der General. Der Soldat habe | |
eine Ansprache gehalten. Es ging um Demokratie. „Ich habe ihn gefragt, was | |
denn so toll sei an seiner Demokratie.“ | |
Der Amerikaner sprach sich für die Meinungsfreiheit aus. „’Ein Amerikaner | |
könne jederzeit gegen den amerikanischen Präsidenten wettern‘, hat er | |
gesagt“, Lan legt eine Kunstpause ein und lacht in die Runde. „Ich hab ihm | |
dann gesagt, dass Vietnam auch demokratisch sei. Jeder hier kann jederzeit | |
gegen den amerikanischen Präsidenten wettern.“ Der General lacht Tränen. | |
Seine Frau und seine Freunde lachen mit. | |
„Die alte Generation glaubt noch an den Kommunismus“, sagt Bian. Über Pham | |
Ngoc Lans Witz kann sie nicht lachen. Die beiden leben im selben Distrikt | |
Hanois. Der General ist eine Berühmtheit in der Gegend. „Diese Generation | |
verbindet mit dem Westen nur Bomben und Tod. Die ticken einfach anders als | |
ich“, sagt Bian. Heute Abend geht sie mit ihren Freundinnen ins Kino, um | |
sich den neuesten Hollywood-Import anzuschauen. „Die Ideen Ho Chi Minhs | |
sind einfach nicht mehr zeitgerecht, und die Politiker heute denken sowieso | |
alle nur ans Geld.“ | |
## Feindbild China | |
Trotz allem ist Bian patriotisch. Sie liebt ihr Heimatland. Wenn es in | |
Vietnam erlaubt wäre zu demonstrieren, würde sie nicht gegen die Zensur im | |
Einparteienstaat wettern, sondern gegen China. Halb Südostasien streitet | |
sich um die Spratley-Inseln im Südchinesischen Meer – auch Vietnam ist mit | |
dabei. „Der Konflikt dauert schon ewig. China sagt, die Insel gehöre nicht | |
zu Vietnam. Das tut sie aber“, sagt die 23-Jährige. | |
In ihrem Leben spielen Grenzen eine große Rolle. Wenn sie schon ihre | |
eigenen Grenzen nicht erweitern kann, dann eben die Grenzen des Landes, in | |
dem sie lebt. | |
Damit das sozialistische Vietnam seinen ganz eigenen Weg gehen kann, hat | |
Pham Ngoc Lan sein Leben dem Krieg gewidmet. Auch Bian kann nicht ihren | |
eigenen Weg gehen, sondern nimmt den vorgeschriebenen. Schon in der | |
Grundschule lernen vietnamesische Kinder das Marschieren. „Fragen sind | |
nicht erlaubt, wir mussten nur auswendig lernen“, sagt Bian. „Aber jetzt | |
fangen viele junge Menschen an, für sich selbst zu denken. Ich hoffe, wir | |
können irgendwann einen anderen Weg gehen.“ | |
* Name geändert | |
3 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Timo Robben | |
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