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# taz.de -- „Operation Babylift“: Wer bin ich dann?
> Am 3. April 1975, in den letzten Tagen des Vietnamkriegs, wurden Tausende
> Babys in den Westen gebracht und dort adoptiert. Melanie Braun war eins
> davon.
Bild: Mit dem Begriff „Heimat“ kämpft Melanie Braun bis heute.
BERLIN taz | Der 20. September ist für Melanie Braun ein schwieriger Tag.
Vielleicht wurde sie damals im Jahr 1974 geboren, vielleicht auch nicht.
„Bis heute“, sagt sie, „ist mein Geburtstag ein Tag, an dem mir die ganze
Geschichte bewusst wird.“
Für die Hamburgerin ist es eine Geschichte von Konflikten, von einer
jahrelangen Identitätskrise und dem verzweifelten Versuch herauszufinden,
wo sie hingehört. „Wenn ich nicht weiß, wo ich geboren bin, wann ich
geboren bin und wie ich heiße, wer bin ich dann?“, fragt sie. Doch die
Geschichte handelt von mehr: von Krieg, Kolonialismus und christlichem
Missionseifer.
Ob Melanie Braun, die heute als Sozialpädagogin in einem Hamburger
Krankenhaus arbeitet, wirklich am 20. September 1974 zur Welt kam oder
nicht, ihren Geburtstag feiert sie an diesem Tag. Wann auch sonst? Ihre
deutschen Adoptiveltern waren bei der Geburt nicht dabei.
Und ob ihre leiblichen Eltern in Vietnam noch leben, weiß sie nicht. „Bei
vielen Vietnamadoptierten mussten die Adoptionspapiere schnell ausgefüllt
werden“, erzählt Melanie Braun, „dafür brauchte man eine Geburtsurkunde,
also wurde alles einfach festgelegt.“
## Babys in Pappkartons
Es waren hektische Tage, in denen Melanies Lebensanfang zu Papier gebracht
wurde. Seit Jahren kämpften die Amerikaner in Vietnam gegen die
Kommunisten. Nun stand die Entscheidung bevor. Die nordvietnamesischen
Truppen rückten immer weiter Richtung Süden vor. Der Sturm auf Saigon war
nur noch eine Frage der Zeit: Nach zwanzig Jahren Krieg würde Südvietnam
fallen. Tausende Kinder hatten ihre Eltern verloren, andere wurden von
ihren alleinstehenden Müttern in Heime gebracht. Nicht wenige von ihnen
waren sogenannte Amerasians: Mutter Vietnamesin, Vater amerikanischer
Soldat. Schnell verbreiteten sich die Gerüchte. Was würde der Feind mit den
hilflosen Babys machen?
Was dann geschah, schilderte Melanie Braun ihren Schulfreunden im
Weserbergland so: „Ich wurde im Krieg geboren, gerettet und ausgeflogen.“
Am 3. April 1975 ordnete US-Präsident Gerald Ford die „Operation Babylift“
an. So viele Babys wie möglich sollten aus den Heimen geholt und außer
Landes gebracht werden. Teils in Pappkartons verluden Hilfsorganisationen
die Kinder wie Exportgut in die Flieger. Präsident Ford empfing eine der
Maschinen persönlich am Flughafen von San Francisco und ließ sich mit einem
vietnamesischen Baby im Arm ablichten. Doch nicht nur in den USA, auch in
Europa, Kanada und Australien fanden sich Eltern, die bereit waren, Babys
aus Vietnam zu adoptieren.
Nach Deutschland seien nur wenige Kinder gebracht worden, sagt Maria Holz,
die lange Zeit im Adoptionsreferat von Terre des Hommes arbeitete. Das
Osnabrücker Kinderhilfswerk hatte Jahre zuvor damit begonnen,
vietnamesische Kinder nach Deutschland zu vermitteln. Etwa ein Dutzend sei
im Rahmen des Babylifts hinzugekommen, schätzt Holz. Unklar ist, wie viele
Babys insgesamt ausgeflogen wurden. Von mehr als 3.300 ist in den meisten
Quellen die Rede. Über 2.000 Kinder sollen in den USA ein neues Zuhause
gefunden haben.
## Das kühne Abenteuer
Anders als in Deutschland, war die Adoptionsbewegung der frühen siebziger
Jahre in den USA nicht linksalternativ geprägt. Viele amerikanische
Adoptiveltern kamen aus dem christlich-konservativen Milieu – was den
US-amerikanischen Diskurs über den Babylift bis heute prägt. Niemand
veranschaulicht diesen besser als LeAnn Thieman. „Das ist mein
Lieblingsthema!“, antwortet sie auf die Frage, ob sie für ein Interview
über den Babylift bereit wäre. LeAnn war damals dabei.
Fotos zeigen sie als 25-jährige Krankenschwester in Vietnam, von Dutzenden
Babys umringt, bevor sie verladen und ausgeflogen wurden. „Als ich in
Vietnam ankam, fielen bereits die Bomben, und die Leute brachten uns aus
allen unseren Waisenheimen Kinder“, erzählt sie. „Der Boden war übersät,
wir hatten ungefähr hundert Babys in zwei Zimmern“, erinnert sie sich.
„Als die Kinder in die Vereinigten Staaten kamen, wurden sie sehr gut
aufgenommen“, sagt LeAnn. Kommunen, Kirchengemeinden und Familien hätten
sich liebevoll um sie gekümmert. Später habe sie Hunderte der Adoptierten
kennengelernt. „Fast alle haben positive Erfahrungen in den Vereinigten
Staaten gemacht und sind sehr dankbar, gerettet worden zu sein.“ LeAnn
wiederholt: „Sie wurden gerettet. Was wir getan haben. war nicht politisch,
es war eine rein humanitäre Aktion.“
„Das kühne Babylift-Abenteuer“, wie es auf LeAnn Thiemans Website heißt,
bestimmt noch heute ihr Leben. Um ihre Erfahrung zu teilen, hält sie
Vorträge und hat 15 Bücher geschrieben – über aufopfernde
Krankenschwestern, die Liebe zwischen Adoptiveltern und ihren Kindern, über
Gottes Wunder und die Kraft des Gebets. Jahre nach dem Krieg dankte ihr
Präsident Ford persönlich für ihren fünftägigen Einsatz in Vietnam.
## Keine kritische Auseinandersetzung
Eine andere Version der Geschichte erzählt Kevin Minh Allen. „Operation
Babylift war eine Manifestation einer langen kolonialistischen Tradition
des Westens“, sagt der in Seattle lebende Dichter, der in Vietnam geboren
und einige Monate vor dem offiziellen Babylift von amerikanischen Eltern
adoptiert wurde. Unter dem Vorwand der humanitären Hilfe habe sich der
Westen in fremde Angelegenheiten eingemischt.
Besonders kritisch sieht Kevin Minh den christlichen Missionseifer, der
hinter der Adoptionsbewegung in den USA gestanden habe. „Während des
Krieges und verstärkt in den letzten Monaten sammelten religiöse Vereine
Spenden für die Waisenheime, die von den Kirchen gegründet und betrieben
wurden.“ In den USA angekommen, seien die Kinder zu Vorzeigechristen
erzogen worden. Viele der damals adoptierten Kinder könnten sich noch allzu
gut an die pflichtgemäßen Tischgebete vor den Mahlzeiten und vorm
Zubettgehen erinnern.
Bis heute gebe es in den USA keine kritische Auseinandersetzung mit dem
Thema. „Die Medien“, sagt Kevin Minh, „ignorieren die enormen
zerstörerischen Folgen, die der Krieg für vietnamesische Familien und
Kinder hatte“. Und überhaupt: Sei es nicht erst der Krieg gewesen, der die
Babylift-Kinder zu Waisen gemacht habe?
## Erste Reise nach Vietnam
Für Melanie Braun sind Fragen, ob der Babylift nun politisch oder rein
humanitär motiviert war, nebensächlich. Der Babylift warf für sie genug
andere Fragen auf. 1995 lud das Kinderhilfswerk Terre des Hommes die
mittlerweile jungen Erwachsenen, die nach Deutschland vermittelt worden
waren, zu einer Reise nach Vietnam ein. Braun, damals zwanzig Jahre alt,
zögerte zuerst, fuhr dann aber doch mit.
„Als ich das erste Mal nach Vietnam kam und sah, dass dort Menschen in
meinem Alter leben, war ich extrem berührt“, erinnert sie sich heute.
„Erstmals kam mir der Gedanke, dass das alles vielleicht nicht so hätte
sein müssen.“ Die Reise stürzte Melanie in eine „jahrelange
Identitätskrise.“ Auch ihren Eltern machte sie Vorwürfe: Warum konnte sie
ihren vietnamesischen Namen nicht behalten? „Mir ging es nach der Reise
extrem schlecht. Ich wusste nicht mehr, wer ich bin, wo meine Heimat ist
und wo ich hingehöre.“
Mit dem Heimatbegriff kämpft sie noch heute. „Zu Hause ist Hamburg. Auch
wenn ich bei meinen Eltern im Weserbergland bin, habe ich das Gefühl, zu
Hause zu sein.“ Aber Heimat? „Wenn ich nach meiner Heimat gefragt werde,
sage ich oft spontan ’Vietnam‘, obwohl ich, als ich dort war, kein
wirkliches Heimatgefühl hatte.“
Ihren Namen änderte sie später in Melanie Thanh Lieu Braun. „Das ist ein
wichtiger Teil meiner Identität“, sagt sie. Die wirkliche Herausforderung
aber war eine ganz andere: Sie musste lernen, mit den offenen Fragen in
ihrem Leben zu leben. „Ich musste anerkennen, dass ich nie herausfinden
werde, wann ich Geburtstag habe, ob meine Eltern noch leben und warum ich
überhaupt abgegeben wurde.“
Ob Operation Babylift gut oder schlecht war? Das kann Melanie Braun nicht
sagen. Der Babylift ist Teil ihres Lebens. „Und wenn meine Krise mich eins
gelehrt hat, ist es, dass mein Leben lebenswert ist.“
3 Apr 2015
## AUTOREN
Jannis Hagmann
## TAGS
Adoption
Vietnamkrieg
Vietnam
Vietnam
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